GERMAN NEWS
DEUTSCHE AUSGABE
Sa, 10.06.1995



* Wolfgang Gerhard neuer FDP-Chef
* Kohl fuer Erhalt des Sozialstaates
* Scharping: Arbeitslosenzahl kann 1996 um 500.000 verringert werden
* Hertie rutscht tief in die roten Zahlen
* Wieder Streiks im westdeutschen Einzelhandel
* Briefbombenanschlag von oesterreichischen Neonazis veruebt
* Steffi Graf gewinnt die French Open
* Ergebnisse der 1. Fussballbundesliga
* Viktorialische Moral statt Brot? (Sueddeutsche Zeitung)



Wolfgang Gerhard neuer FDP-Chef

Der neue FDP-Chef heisst Wolfgang Gerhard. 57 % der Delegierten stimmten fuer den bisherigen Parteivize. Sichtlich erleichtert nahm Wolfgang Gerhard das Ergebnis entgegen und dankte den Delegierten fuer ihr Vertrauen. Er wolle mit ganzem Herzen fuer die FDP arbeiten und sein Bestes geben. Das hatte er bereits in seiner Bewerbungsrede versprochen. In der engagierten Ansprache hatte er ausserdem ein schaerferes Profil seiner Partei gefordert. "Wir sind zuallererst Freie Demokraten und dann Koalitionspartner". Juergen Moellemann landete erwartungsgemaess auf dem zweiten Platz. Mit seiner kaempferischen Rede konnte er aber immerhin 33% der Delegierten fuer sich gewinnen. Nach diesem Achtungserfolg wird er sich nun vermutlich auf der bundespolitischen Buehne zurueckmelden. Der Kandidat der bayerischen Jungliberalen Markus Schoenherr erreichte immerhin noch 6 % der Stimmen. Gerhard bleiben nun rund vier Monate, um die FDP wieder auf Vordermann zu bringen, denn bereits im Oktober steht fuer die Liberalen die naechste Nagelprobe an: die Landtagswahlen in Berlin.


Kohl fuer Erhalt des Sozialstaates

Kanzler Kohl hat sich auf der Bundestagung der christlich demokratischen Arbeitnehmerschaft fuer den Erhalt des Sozialstaates ausgesprochen. Kohl, der erstmals seit sechs Jahren wieder vor den CDU-Sozialausschuessen sprach, forderte vor allem bessere Moeglichkeiten zur Vermoegensbildung fuer Arbeitnehmer und flexiblere Arbeitszeiten. Der Bundeskanzler praesentierte sich dem Arbeitnehmerfluegel seiner Partei als ein Mann, dem die Fragen der sozialen Sicherung am Herzen liegen. Vermoegensbildung in Arbeitnehmerhand, fuer jeden Jugendlichen ein Ausbildungsplatz, bessere Beschaeftigungschancen fuer Behinderte, eine optimale Familien- und auch Wohnungspolitik; ueberall ein klares Plaedoyer von Kohl, aber auch eine klare Absage an jene Sozialbetrueger, die statt Arbeit anzunehmen lieber durch den Steuerzahler ermoeglichte Leistungen in Anspruch nehmen. Ein vollmundiges Lob fuer die Sozialausschuesse und deren Rolle als soziales Barometer beendete die jahrelange Distanz zwischen CDA und Kanzler. Dieser zeigte sich darueberhinaus bereit fuer eine weitere Annaeherung mit den Gewerkschaften. Walter Riester, der stellvertretende IG-Metallvorsitzende forderte auf dieser Tagung mehr Qualifizierung, sowie neue Technik- wie Produktionsleitbilder, aber auch einen Ausbau der Sozialbeziehungen um die bestehenden Arbeitsplaetze zu stabilisieren und neue Taetigkeitsfelder zu entwickeln. Der ehemalige Praesident des BDI, Till Nicker, warnte dagegen den Mangel an Arbeit zu rationieren. Er forderte, die Arbeitslosigkeit mit offensiven und nicht mit defensiven Mitteln zu bekaempfen.


Scharping: Arbeitslosenzahl kann 1996 um 500.000 verringert werden

Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland koennte nach Ansicht des SPD-Vorsitzenden Scharping schon im naechsten Jahr um 500.000 verringert werden. Auf einer Betriebsraetekonferenz in Erfurt sagte Scharping, es fehle diesem Land weder an Arbeit noch an wirtschaftlicher Kraft, wohl aber an politischem Mut, daraus bezahlte Arbeit zu machen. Arbeit gerechter verteilen, Investitionen erleichtern und die Forschung intensivieren, das sind die drei Eckpunkte des SPD-Konzeptes, das Rudolf Scharping heute vorlegte. Das Konzept ist nach Ansicht der SPD eine Chance zur Loesung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Arbeit gerechter verteilen, das heisst laut Scharping, die Arbeitszeit verkuerzen. Es bedeute aber auch, so der SPD-Politiker, dass die Einkommen gekuerzt werden. Investitionen erleichtern will die SPD vor allem damit, dass die Gewerbekapitalsteuer nicht wie von der Bundesregierung geplant abgeschafft wird. Die damit fehlenden Einnahmen werde sich Bundesfinanzminister Waigel ueber eine zusaetzliche Besteuerung von Handwerk und Mittelstand holen und das schaffe in Deutschland ein katastrophales Investitionsklima, so Scharping. Dies verschlechtere wiederum die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Es waere eine Schande und politische Dummheit, wenn nichts fuer die Ausbildung der Jugendlichen getan werde. Unternehmern, die sich aus ihrer Verantwortung fuer die Ausbildung stehlen, muessten ueber eine Umlage zur Kasse gebeten werden. Scharping forderte die Bundesregierung auf, mehr Mut zu zeigen, als der vorhandenen Arbeit bezahlbare Arbeitsplaetze zu machen. Die SPD will daher in Kuerze im Bundestag einen Entwurf fuer ein Arbeits- und Strukturfoerderungsgesetz vorlegen.


Hertie rutscht tief in die roten Zahlen

Essen. Der Kaufhauskonzern Hertie, der seit Anfang letzten Jahres zum Karstadt-Konzern gehoert, ist 1994 tief in die roten Zahlen abgerutscht. Dem Karstadt-Geschaeftsbericht zufolge machte die Hertie Waren- und Kaufhaus-GmBH im vergangenen Jahr einen Verlust von rund 150 Millionen DM. Im Vorjahr hatte Hertie dagegen noch einen Ueberschuss von rund 4 Millionen DM erzielt. Der Fehlbetrag sei zum einen auf die Umstrukturierung der Kaufhausgruppe zurueckzufuehren, zum anderen auf den Umsatzrueckgang um sieben Prozent.


Wieder Streiks im westdeutschen Einzelhandel

Heidelberg. Im Suedwesten gab es auch heute wieder Streiks im Einzelhandel. Laut Gewerkschaft legten in Betrieben in Heidelberg, Karlsruhe und Sigmaringen ueber 500 Beschaeftigte die Arbeit nieder. Fuer die kommende Woche sind weitere Protestaktionen geplant.


Briefbombenanschlag von oesterreichischen Neonazis veruebt

Der Briefbombenanschlag auf eine Muenchner Fernsehmoderatorin geht wahrscheinlich auf das Konto oesterreichischer Neonazis. Das vermutet jdenfalls das bayerische Bundeskriminalamt. Die Ermittlungen in Muenchen laufen auf Hochtouren, aber auch die Behoerden in Oesterreich beteiligen sich an der Suche nach dem Taeter.


Steffi Graf gewinnt die French Open

Steffi Graf hat den Tennisthron der Damen zurueckerobert. Trotz Regens behielt sie in Paris den Ueberblick und feierte duch ein hart erkaempftes 7:5, 4:6 und 6:0 ueber Titelverteidigerin Aranxia Sanchez-Vikaric den Finalsieg bei den French Open.


Ergebnisse der 1. Fussballbundesliga

1860 Muenchen       - 1. FC Kaiserlautern   1:3
Dynamo Dresden      - Bayern Muenchen       0:1
Werder Bremen       - Karlsruher SC         2:1
Vfl Bochum          - Schalke 04            5:1
SC Freiburg         - Bayer Uerdingen       1:0
Borussia M'Gladbach - Vfb Stuttgart         3:1
MSV Duisburg        - Borussia Dortmund     2:3
Hamburger SV        - Eintracht Frankfurt   3:1
1. FC Koeln         - Bayer Leverkusen      3:3



Viktorialische Moral statt Brot? (Sueddeutsche Zeitung)

Die im Dunkeln sieht man nicht. Diese Erfahrung machen nicht nur Arbeitslose und Sozialhilfeempfaenger, sondern auch schlecht bezahlte Arbeitnehmer wie die Beschaeftigten im Einzelhandel, deren Streik weder die Medien noch die Konsumenten besonders erregt. Selbst wenn ihre Gewerkschaft staerker waere, haetten sie keine Macht. Man brauchr sie zwar aber sie sind ersetzbar. Ihre Lage wird nicht nur von den Arbeitgebern ausgenutzt, sondern auch von den Kunden, die ihr Geld dorthin tragen, wo das Angebot am billigsten ist. Dienstleistung wird von denen, die sie in Anspruch nehmen, sehr direkt als "dienen" verstanden, und dienen wird traditionell duerftig bezahlt. Insbesondere wenn die Geschaefte, wie im Augenblick, zu wuenschen uebrig lassen. Der Koenig Kunde fuehlt sich durch steigende Steuern und Abgaben sowie durch sinkende Lohnzuwaechse selbst ausgebeutet und dreht die Mark zweimal um, bevor er sie ausgibt. Es geht hier aber nicht um die sechs Prozent, fuer die im Einzelhandel gekaempft wird. Dies ist nur ein Symptom fuer den Zustand der Gesellschaft. Es gibt andere wie die Zunahme der Sozialhilfeempfaenger. Nach dem juengsten Bericht des Statistischen Bundesamtes konnten im Jahre 1993 2,5 Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr allein bestreiten, darunter viele Arbeitslose. Imzwischen wird die Zahl noch hoeher sein. Die staatliche Sozialhilfe ist an der Grenze ihrer Leistungsfaehigkeit. Der zustaendige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer hat deshalb sofort wieder nach einer "Reform der Sozialhilfe" gerufen, deren oberstes Ziel es sein muesse, den Bezug von Sozialhilfe zu vermeiden. Damit streut Seehofer sich Sand in die Augen. Wir leben offensichtlich in einer Transfergesellschaft, in der immer mehr Menschen auf Hilfe angewiesen sind - entweder weil sie keine Arbeit haben oder weil ihr Verdienst fuer den Lebensunterhalt nicht ausreicht. In den Industrienationen hat ein technischer und gesellschaftlicher Quantensprung stattgefunden. Wachstum ist gleich hoehere Produktivitaet. Dafuer werden aber heute nicht mehr, sondern - im weltweiten Wettbewerb - weniger oder billigere Arbeitskraefte gebraucht. Dem Druck auf die Loehne, der ueberall deutlich spuerbar ist, sind aber politische und soziale Grenzen gesetzt. Noch immer ist es einfacher, Leute zu entlassen, zumal da die Chip-Technik sie ohnehin ueberfluessig macht. Der Konjunkturaufschwung der letzten Monate hat kaum neue Arbeitsplaetze geschaffen. Wir werden mit einem hohen Prozentsatz von Arbeitslosen leben muessen. Auch die oekologische Wirtschaft wird daran nicht aendern, wenn sie oekonomisch sein will, vor allem wenn sie nur herkoemmliche Industrien ersetzt. Arbeit gibt es zwar genug, aber billige Arbeit wie in Teilen des Dienstleistungsgewerbes. Wir werden deshalb mit einer wachsenden Zahl von schlecht bezahlten Arbeitern leben muessen, die in vielen Faellen auf zusaetzliche Unterstuetzung angewiesen sind.

ANSPRUECHE AN DEN STAAT - Der amerikanische Arbeitsminister Rober Reich warnte kuerzlich: "Dieser Trend bedroht die Stabilitaet und Prosperitaet unserer Gesellschaften. Wir halten uns selbst zum Narren, wenn wir glauben, dass wir das soziale Sicherheitsnetz zerreissen, den unbeschraenkten Fluss von Kapital und Waren erlauben und gleichzeitig den Verlierer in unserer Wirtschaft versichern koenne, dass wegen des daraus resultierenden Wachstums ihre Verluste nur voruebergehend sein werden." Diese Worte sind an die konservativ-puritanischen "Reformer" in den USA gerichtet, die das Sozialhilfeprogramm drastisch einschraenken moechten und die Ansprueche an den Staat auf den Verfall der buergerlichen Moral vor allem bei unverheirateten jungen Muetter zurueckfuehren. Einiges davon ist auch ueber den Atlantik geschwappt - weniger nach Deutschland als nach England, wo Margarete Thatcher noch als Erzengel viktorianischer Tugenden gilt. Ueber die "neuen Viktorianer", die lieber Plicht und Moral predigen als Brot geben, spottet dieser Tage sogar die sonst so kapitaltreue "Financial Times". Sie druckte ein Stueck aus einem viktorianischen Roman von Charlotte Bronte' nach, in dem sich Waisenhausrektor Brocklehurst darueber beschwert, dass jungen Maedchen entgegen seinen Anweisungen zweimal in der Woche Brot und Kaese zum Mittagessen gegeben wird und dann sagt: "Wenn Sie Brot und Kaese statt Hafferbrei in die Muender dieser Kinder stopfen, moegen sie in der Tat ihre suendhaften Koerper fuettern, Sie vergessen aber dabei, wie sehr ihre unsterbliche Seelen darben." In der sozial aufgeklaerten Bundesrepublik wuerden sich die konservativen "Reformer" solche Vergleiche verbitten. Sie reden nur davon, wie man den "Missbrauch" der Sozialhilfe verhindern und durch Einfuehrung eines "Abstandsgebotes" zwischen Sozialhilfe und Loehnen wieder einen staerkeren Arbeitsanreiz schaffen und arbeitsunwillige Hilfeempfaenger durch "zumutbare" Arbeit fuer die Allgemeinheit in Plicht nehmen koenne.

SEEHOFERS REFORMPLAENE - In der Theorie ist das nicht falsch. Es gibt Missbrauch, wenngleich weniger als angenommen. Es gibt Sozialhilfe, die nicht unter, sonder ueber niedrigen Loenen liegt. Und warum soll es unzumutbar sein, Sozialhilfeempfaenger zum Saeubern des Rasens im Stadtpark zu verpflichten? In der Praxis sieht es jedoch anders aus. Missbrauch und Arbeitsunwilligkeit sind schwer zu definieren. Da kann vor Willkuer nur gewarnt werden. Sinnvolle und angemessen bezahlte Arbeit wird in der Regel immer noch akzeptiert. Die fuer Sozialhlifeemfaenger vorgesehenen Beschaeftigungen sind dies nicht; sie sind obendrein unprodukiv und verhindern die Schaffung von regulaeren Arbeitsplaetzen. Und was das "Abstandsgebot" angeht, so haengt dies von der Definition des Existenzminimums und damit auch eines Mindestlohnes ab. Es gibt junge Ehepaare mit Kindern, bei denen, wenn nur einer arbeitet, das Sozialamt die Miete zahlen muss, weil diese sonst nicht mehr erschwinglich ist. Die Einfuehrung eines Abstandsgebots wuerde die Forderung nach Erhoehung des Existenzminimums und der Niedrigloehne provozieren. Seehofers Reformplaene sind Schaufensterware fuer buergerliche Waehler. Die Probleme der Transfergesellschaft loesen sie nicht. Es wird Zeit, ueber umfassendere Ansaetze nachzudenken. Einer davon ist das umstrittene Buergergeld, die staatliche Zusicherung eines Existenzminimums. Liegen auch Lohnempfaenger darunter, wird ihnen anstelle von Sozialhilfe die Differenz als Negativsteuer ausbezahlt, womit auch Arbeitslosen-Unterstuetzung gespart werden koennte. Alle Argumente gegen das Buergergeld koennen bis auf eines entkraeftet werden: die Kosten. Die Einfuehrung des Buergergelds haengt von einer radikalen Steuerreform ab - die Abschaffung aller Steuerverguenstigungen und die konsequente Verfolgung der Steuerhinterziehung. Bisher fehlt den grossen Parteien dazu der Mut. Ebenso wie zu der Einsicht, dass nicht mehr alle Menschen zur aktiven Mitarbeit am Wertschoepfungsprozess hochindustrialisierter Gesellschaften gebraucht werden. Die Zeiten der Vollbeschaeftigung sind endgueltig vorbei. Dennoch muss auch denen, die keine Arbeit haben oder deren Leistung unzureichend entlohnt wird, eine menschenwuerdige Teilnahme am allgemeinen Wohlstand ermoeglicht werden.


Quellen

SDR3    15:00 MESZ
B5    15:30 MESZ    20:30 MESZ
Sueddeutsche Zeitung vom 10./11.6.1995