GERMAN NEWS
DEUTSCHE AUSGABE
So, 01.10.1995



* Herzog wuerdigt Solidaritaet und Leistungsbereitschaft der Deutschen
* Bombenalarm im Bonner Regierungsviertel
* Privatbesuch des britischen Premiers beim Kanzler
* BDI-Praesident fordert mehr oeffentliche Auftraege fuer Ostdeutschland
* Einschnitte bei den Leistungen fuer Arbeitslose gefordert
* Strategiekongress der Gruenen
* Verheugen sieht sich als Opfer
* Gauck kritisiert Straffreiheit ehemaliger DDR-Juristen
* Steuerzahlern drohen ueber 13 Milliarden DM Verluste
* Volksentscheid in Bayern zum Buergerbegehren
* Neues Abtreibungsrecht in Kraft
* RAF-Nachfolgeorganisation erhaelt Informationen aus dem Bundestag
* Mayer-Vorfelder kritisiert Graf-Anwaelte
* Lehmann fuer leichtere Einbuergerung von Auslaendern
* Appell des Ratsvorsitzenden der EKD an die Vertriebenenverbaende
* Erntedankfest
* Feuerwehr verhindert Katastrophe in Aschaffenburg
* Krimireifer Ueberfall auf Spielothek
* Fussballbundesliga
* Formel I: Grosser Preis von Europa
* Ein Staat - zwei Nationen? (Sueddeutsche Zeitung)
* Das Streiflicht (Sueddeutsche Zeitung)
* Nein, das war jetzt ungerecht: Die Weisswuerste hat Stoiber nicht erwaehnt,



Herzog wuerdigt Solidaritaet und Leistungsbereitschaft der Deutschen

Weimar/Berlin. Die Furcht vor einem neuen Nationalismus in Deutschland hat sich nach Ansicht von Bundespraesident Roman Herzog fuenf Jahre nach der Einheit nicht bestaetigt. Weiter sagte Herzog heute in Weimar bei einer Diskussion unter dem Motto "Die unverkrampfte Nation" die Buerger aus Ost und West haetten Solidaritaet und Leistungsbereitschaft gezeigt. In Berlin haben die sechzehn Bundeslaender mit einem bunten Festumzug den bevorstehenden Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Rund 100.000 Zuschauer kamen nach Schaetzungen der Polizei zu der Veranstaltung.


Bombenalarm im Bonner Regierungsviertel

Im Bonner Regierungsviertel ist am Morgen Bombenalarm ausgeloest worden. Die Polizei fand dort in der Heuss-Allee einen verdaechtigen Koffer unbekannten Inhalts. Das Regierungsviertel wurde weitraeumig abgesperrt.


Privatbesuch des britischen Premiers beim Kanzler

Speyer. Der britische Premierminister Major ist zu einem privaten Besuch bei Bundeskanzler Kohl in der Pfalz eingetroffen. Beide Regierungschefs besuchten zunaechst den Dom in Speyer. Danach ging es nach Deidesheim weiter, ehe das Treffen im Privathaus Kohls in Ludwigshafen-Oggersheim fortgesetzt wurde. Major flog am Abend wieder nach London zurueck.


BDI-Praesident fordert mehr oeffentliche Auftraege fuer Ostdeutschland

Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) hat die alten Bundeslaender aufgefordert, mehr Auftraege an die Firmen ostdeutscher Laender zu vergeben. Trotz Zusagen haetten die westdeutschen Laender mit Ausnahme von Hamburg und Hessen im oeffentlichen Beschaffungswesen die Praeferenz fuer Ostdeutschland nicht realisiert, kritisierte BDI-Praesident Henkel in einem Interview der Nachrichtenagentur ddp/adn in Koeln. Wie man mit praktizierter Solidaritaet dem Osten helfen koenne habe die deutsche Wirtschaft mit ihrer Einkaufsoffensive Ost gezeigt. Darin haben sich bisher 86 westdeutsche Unternehmen verpflichtet, Auftraege verstaerkt an die neuen Laender zu vergeben.


Einschnitte bei den Leistungen fuer Arbeitslose gefordert

Die CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung hat erneut Einschnitte bei den Leistungen fuer Arbeitslose verlangt. Ihr Vorsitzender Bregger bezeichnete die Trennung zwischen Arbeitswilligen und Arbeitsunwilligen als zentrale Aufgabe der Sozialpolitik in den naechsten Jahren. Die Drueckeberger muessten aufgestoebert werden, um die Leistungen auf die wirklich Beduerftigen zu konzentrieren, sagte Dregger der in Berlin erscheinenden Zeitung "BZ am Sonntag". Erwerbslose sollten auch zu unterqualifizierten, befristeten und schlecht bezahlten Taetigkeiten gezwungen werden koennen. Zur Begruendung seiner Forderungen verwies der CDU-Politiker unter anderem darauf, dass alleine im vergangenen Jahr mehr als 400.000 neue Arbeitsgenehmigungen fuer Beschaeftigte aus Nicht-EU-Staaten ausgestellt worden seien.


Strategiekongress der Gruenen

Der Strategiekongress von Buendnis 90 / Die Gruenen in Bonn beschaeftigte sich heute vor allem mit der kuenftigen Linie der Partei in der Aussen- und Sicherheitspolitik. Der Fraktionssprecher von Buendnis 90 / Die Gruenen, Fischer, hat seine Partei aufgefordert, militaerische Einsaetze in Bosnien zu unterstuetzen. Ansonsten wuerden die Gruenen weder Mehrheiten noch einen Regierungspartner finden, betonte Fischer heute in Bonn. Der fruehere Vorstandssprecher Vollmer verlangte hingegen, am Grundsatz der Ablehnung vom Militaereinsaetzen festzuhalten. Fischer bekannte sich in seiner Grundsatzrede klar zur Weiterentwicklung der Europaeischen Union. Dabei muesse Russland in einen gemeinsamen Sicherheitsvertrag eingeschlossen werden, um einen neuen Ost-West-Konflikt zu verhindern.


Verheugen sieht sich als Opfer

Bonn. Der zurueckgetretene SPD-Bundesgeschaeftsfuehrer Guenther Verheugen sieht sich als Opfer einer Kampagne seiner Partei. Der "Bild am Sonntag" sagte er, seit Wochen laufe in den eigenen Reihen der Partei eine, so woertlich, "hinterhaeltige anonyme Kampagne" gegen ihn, die er nicht habe beherrschen koennen. Damit rueckte er von der offiziellen Darstellung ab, dass das Amt wegen Doppelbelastung nicht zu bewaeltigen gewesen sei.


Gauck kritisiert Straffreiheit ehemaliger DDR-Juristen

Der Bundesbeauftragte fuer die Stasi-Unterlagen, Gauck, hat kritisiert, dass ehemalige DDR-Juristen straffrei ausgegangen sind, die wegen Rechtsbeugung angeklagt wurden. Manche Gerichte haetten mitunter eine allzu schnelle Bereitschaft, einstige politische Verbrechen und unmoralische Handlungen fuer juristisch nicht fassbar zu halten, sagte Gauck im Deutschlandfunk. Dabei gebe es eine gewisse Naehe zu den Argumenten derer, die damals als Richter und Staatsanwaelte wirkten und oft eine Distanz zu der Lebenssicht der Opfer des Regimes. Gauck betonte, fuenf Jahre nach der Einheit sei es nicht an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Vielmehr muesse die kontroverse Debatte ueber die DDR-Vergangenheit weitergefuehrt werden. Deren Aufarbeitung werde aber scheitern, wenn sich nur auf das Thema "Stasi" konzentriert werde.


Steuerzahlern drohen ueber 13 Milliarden DM Verluste

Den deutschen Steuerzahlern drohen angeblich Verluste von ueber 13 Milliarden DM, weil zahllose Verfahren gegen Vereinigungskriminelle in den Schubladen schmoren. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Beucherl gab gegenueber der "Bild am Sonntag" als Grund dafuer den Personalmangel bei der Berliner Staatsanwaltschaft an. Die Vorermittlungen seien in ueber 7.000 Faellen abgeschlossen. Die Staatsanwaelte koennten aber keine Verfahren eroeffnen, weil ihnen die Leute fehlten. Viele Faelle verjaehren bald.


Volksentscheid in Bayern zum Buergerbegehren

Muenchen. In Bayern waren heute die Wahlberechtigten aufgerufen, per Volksentscheid auf kommunaler Ebene mehr politische Mitspracherechte zu erreichen. Die Buerger konnten zwischen dem Gesetzentwurf der Buergeraktion "Mehr Demokratie in Bayern" und dem Gegenvorschlag der CSU waehlen. Fuer die Regierungspartei soll der Buergerentscheid nur dann Erfolg haben, wenn 25 Prozent der Wahlberechtigten in der Kommune zustimmen. Die Buergeraktion will mit einfacher Mehrheit entscheiden lassen. Die Buergeraktion "Mehr Demokratie in Bayern" hat den Volksentscheid gewonnen. Das vorlaeufige amtliche Endergebnis lautet: 57.8 Prozent der Waehler stimmten fuer kommunale Mitspracherechte, der Gegenvorschlag der CSU erhielt nur 38.7 Prozent der Waehlerstimmen. Damit tritt das Gesetz mit den weitestgehenden Mitbestimmungsrechten in Deutschland zum 1. November in Kraft.


Neues Abtreibungsrecht in Kraft

Bonn. In Deutschland gilt von heute an das neue Abtreibungsrecht. Ein Schwangerschaftsabbruch bleibt danach in den ersten zwoelf Wochen straffrei, wenn sich die Frau mindestens drei Tage vor dem Eingriff einer Beratung unterzogen hat und dies durch eine Bescheinigung nachweist. Fuer die Beratung gibt es genaue Regeln, die nach jahrelangen Diskussionen im Sommer vom Parlament gebilligt wurden. Kritiker bemaengeln, dass die Beratung zwar zum Schutz des ungeborenen Lebens und zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen, aber zugleich auch ergebnisoffen gefuehrt werden soll. Ausserdem kann die Frau auch anonym bleiben und auch nicht gezwungen werden, ihre Gruende fuer die Abtreibung offen zu legen. Nach dem Gespraech muss eine Beratungsbescheinigung ausgestellt werden.


RAF-Nachfolgeorganisation erhaelt Informationen aus dem Bundestag

Bonn. Die RAF-Nachfolgeorganisation "Antiimperialistische Zelle" (AIZ) hat vertrauliche Informationen des Bundestages erhalten. Laut "Bild am Sonntag" ergab dies eine Analyse des Bekennerschreibens nach dem Anschlag auf das Haus des CDU-Politikers Breuer. Der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses Penner erklaerte, das Zitieren aus Protokollen des Verteidigungsausschusses weise darauf hin, dass es im Bundestag moeglicherweise einen Spitzel gebe.


Mayer-Vorfelder kritisiert Graf-Anwaelte

Stuttgart. Der baden-wuerttembergische Finanzminister Mayer-Vorfelder hat den Anwaelten von Peter Graf vorgeworfen, eine Fuelle von unwahren Behauptungen und Verdaechtigungen zu verbreiten. Mayer-Vorfelder sagte gestern im ZDF, die gerichtlich untersagte Aufhebung des Steuergeheimnisses verbiete es ihm jedoch, die Behauptungen richtigzustellen. Mayer-Vorfelder raeumte ein, dass es Absprachen zwischen der Finanzbehoerde und dem Vater der Tennisspielerin gegeben habe. Diese seien jedoch nichtig, wenn sich hinterher herausstelle, dass betrogen und gelogen und allem Anschein nach Steuern hinterzogen wurden.


Lehmann fuer leichtere Einbuergerung von Auslaendern

Bonn. Fuer eine leichtere Einbuergerung von Auslaendern hat sich der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Lehmann, ausgesprochen. Gegenueber dem Suedwestfunk sagte Lehmann, von den sieben Millionen Auslaendern in Deutschland lebten 28 Prozent schon laenger als 20 Jahre in Deutschland. Lehmann sagte, ohne eine Einbuergerung blieben diese Menschen Auslaender, obwohl sie gesellschaftlich zu uns gehoeren.


Appell des Ratsvorsitzenden der EKD an die Vertriebenenverbaende

Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Engelhardt, hat an die Vertriebenenverbaende appelliert, die bestehenden Grenzen in Europa als politische Realitaet anzuerkennen. Es gebe keine Neugestaltung der politischen Zukunft, wenn man auf alten Besitzstaenden verharre, sagte der badische Landesbischof heute im Suedwestfunk anlaesslich der Veroeffentlichung der EKD-Ost-Denkschrift vor 30 Jahren. Er fuegte hinzu, einseitige Forderungen nach finanzieller Wiedergutmachung loesten bei den oestlichen Nachbarn des wiedervereinigten Deutschlands Angst und Misstrauen aus.


Erntedankfest

Muenchen. Mit zahlreichen Hoffesten und Dankgottesdiensten wurde heute in Bayern das Erntedankfest begangen. In einer gemeinsamen Erklaerung betonten der bayerische Bauernverband und die beiden grossen christlichen Kirchen, in Deutschland duerfe man sich niemals mit dem Hunger in der Welt abfinden. Im eigenen Land muesse das Ziel die Erhaltung einer hohen Bodenfruchtbarkeit sein, die Pflege der Kulturlandschaft und die Erzielung ertragreicher Ernten ohne Raubbau an der Natur. Weiter heisst es in dem Papier, wie in keinem anderen Wirtschaftsbereich sei es das Ziel, die Produktionsgrundlagen an die naechste Generation in bestem Zustand weiterzugeben.


Feuerwehr verhindert Katastrophe in Aschaffenburg

Aschaffenburg. Nur durch das rasche Eingreifen der freiwilligen Feuerwehr konnte in der vergangenen Nacht eine Katastrophe im Hafengelaende der Mainstadt verhindert werden. Nach Polizeiangaben war im Buerogebaeude einer Aschaffenburger Gashandelsfirma vorsaetzlich Feuer gelegt worden, das auf nur 15 Meter entfernte, grosse Gastanks ueberzugreifen drohte. Nach ersten Ermittlungen hatte vermutlich ein Einbrecher versucht, seine Spuren in dem Buerogebaeude durch den Brand zu beseitigen. Dort hatte der Unbekannte mehrere Geldkassetten aufgebrochen. Die Hoehe seiner Beute steht noch nicht fest, der entstandene Sachschaden wurde mit rund 100.000 DM angegeben.


Krimireifer Ueberfall auf Spielothek

Einen krimireifen Ueberfall auf eine Spielothek gab es heute Nacht kurz vor ein Uhr in Fuessen. Zwei bewaffnete Maenner drangen in das Lokal ein und zwangen die Besitzer, den Tresor zu oeffnen. Die beiden Taeter hatten sich eine Strumpfmaske ueber das Gesicht gezogen, in die Sehschlitze geschnitten waren. Als der Geschaeftsfuehrer der Spielothek und sein Angestellter den Tresor geoeffnet hatten fesselten die beiden Raeuber sie. Dann mussten sie mit ansehen, wie die beiden Eindringlinge die Automaten gewaltsam aufbrachen, rund 12.000 DM erbeuteten und anschliessende fluechteten. Nach etwa einer halben Stunde war es einem der Ueberfallenen gelungen, sich zu befreien und die Polizei zu rufen. Ganz offensichtlich hatte zuvor ein Komplize der Raeuber die Raeumlichkeiten ausspioniert. Es handelt sich dabei um eine Person mit dunklen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Die Taeter sind noch immer auf der Flucht.


Fussballbundesliga

Dortmund         - Bayern Muenchen     3:1
Moenchengladbach - Frankfurt           4:1



Formel I: Grosser Preis von Europa

Zum ersten Mal seit 10 Jahren fand heute wieder ein Formel I Rennen auf dem Nuerburgring statt. Michael Schumacher gewann das Rennen vor Jean Alesi und David Coulthard. In der Wertung der Weltmeisterschaft fuehrt Schumacher jetzt mit 82 Punkten vor Damon Hill (55) und David Coulthard (43). Um seinen Weltmeisterschaftstitel zu verteidigen muss Michael Schumacher jetzt aus den letzten drei Rennen noch vier Punkte holen.


Ein Staat - zwei Nationen? (Sueddeutsche Zeitung)

(von Dieter Schroeder) Lange hiess es: Zwei Staaten - eine Nation. Das war zu den Zeiten, als es zwei Deutschlands gab. Fuenf Jahre nach der Vereinigung koennte es heissen: Ein Staat - zwei Nationen. Jedenfalls koennte man zu diesem Eindruck kommen, wenn man sich durch die Berge von Buechern, Artikeln und Umfragen ackert, die mehr oder weniger larmoyant und monoman nur ein Ziel haben - die Befindlichkeit der Deutschen, noch immer saeuberlich in Ost und West getrennt, herauszufinden.

Dabei geht es nicht um die Gesundheit der Deutschen, wie vielleicht ein Englaender meinen wuerde, dem man das unuebersetzbare deutsche Wort "Befindlichkeit" zu verdeutlichen versuchte, sondern um ein Sammelsurium zugegebenermassen lebenswichtiger Sachen - um die Seelen- und Bewusstseinslage, um die Angleichung der Lebensverhaeltnisse, um Geld und Wachstum, um die Zugehoerigkeit zu einem Grossen und Ganzen und darum, wie man dies benennen soll, also zum Beispiel Vaterland, Nation, Heimat, Geltungsbereich der Deutschen Mark oder um die Frage, ob man immer noch Ossi oder Wessi ist. Dazu gehoert auch die Suche nach den bluehenden Landschaften, die der Bundeskanzler bekanntlich zum 3. Oktober 1995 versprochen hat. Es gibt kaum noch ein Dorf oder einen Landstrich in den fuenf neuen Bundeslaendern, wo fleissige Wort- oder Bildreporter nicht nachgeschaut haben, ob da was blueht. Viel Bluehendes haben sie nicht gefunden, aber immerhin scheint die Lage nicht ganz hoffnungslos zu sein, und in weiteren zehn Jahren koennte des Kanzlers Prophezeiung sogar in Erfuellung gegangen sein.

Aber was ist mit dem Volk? Da gibt es ernste Bedenken. Die Ostdeutschen, so lernen wir, sind nach vierzigjaehriger Trennung eben doch anders als wir. Sie haben einen anderen Begriff von Politik und Recht, sie haben ein staerkeres Gefuehl fuer menschliche Gemeinschaft und soziale Sicherheit, sie haben eine andere Vorstellung von der Rolle der Frau, sie wollten zwar Freiheit, aber nicht unsere Art der Demokratie und faenden im nachhinein die DDR eigentlich gar nicht so schlecht, vor allem wegen der Ausstattung mit Kindergaerten. Schlimmer noch, die Juengeren gingen nicht nur enttaeuscht auf Distanz zum alten Stasi-Staat, sondern auch zu einer Gesellschaft, in der der schnoede Mammon regiert. "Du musst ein Schwein sein in dieser Welt", singt die erfolgreichste Pop-Gruppe der "Ex-DDR". Gehoeren die Ossis zu einer anderen Nation? Hat Willy Brandt sich geirrt? Kann nicht zusammenwachsen, was nicht zusammengehoert?

MANGEL AN GEMEINSAMKEIT - Nicht einmal Gregor Gysi und die PDS wuerden dies behaupten. Fuer alle Beispiele des Andersseins, besonders fleissig aufgelistet von Leuten, denen die Vereinigung ohnehin nicht gepasst hat, gibt es auch Gegenbeispiele. Und neben Trennendem gibt es auch Gemeinsames. Die groesste Gemeinsamkeit der Deutschen ist es, dass sie nicht allzuviel Gemeinsames haben. Andrzej Szcypiorski, der polnische Schriftsteller hat schon auf dem Hoehepunkt der Wende-Euphorie bezweifelt, ob die Vereinigung die "geistige Einheit aller Deutschen" bedeutet. Von einer Gemeinsamkeit des nationalen Charakters und Denken koenne kaum die Rede sein, weil es keine Gemeinsamkeit des deutschen Schicksals gegeben habe.

Dieser Mangel an Gemeinsamkeit erklaert, warum die Deutschen seit dem Ende des Roemischen Reiches deutscher Nation stets fragen, was ihr Vaterland sei, und warum sie mit beinahe schizoider Veranlagung zu wissen begehren, wer sie seien und was sie von anderen unterscheide. Eben diese ewigen Fragen, koennte man sagen. Heute taucht die Frage im modernen Gewand als Frage nach der nationalen Identitaet und nach der Lernfaehigkeit der Deutschen auf.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist sie heute aber klar beantwortet. Mit der Vereinigung hat die "verspaetete Nation" nun geographisch eine endgueltige From. Jeder Versuch, an den gegenwaertigen Grenzen zu ruetteln, haette die naechste Katastrophe zur Folge. Und ebenfalls zum ersten Mal haben die Deutschen eine Chance, ein gemeinsames Schicksal zu entwickeln. Es ist die auch letzte Chance. Die Frage, ob sie zur Strafe fuer Auschwitz ewig geteilt bleiben muessten, ist muessig. Nach dem Zerfall des kummunistischen Imperiums haetten sie die Vereinigung nicht verhindern koennen, selbst wenn sie es gewollt haetten. Die Frage ist vielmehr, was sie aus Auschwitz gelernt haetten.

KEIN KLARER SCHLUSSSTRICH - Bis jetzt ist die Antwort fuer Wessis und Ossis trotz Solingen, Moelln und Hoyerswerda ueberwiegend positiv. Die grosse Mehrheit stellt den demokratischen Staat nicht in Frage, und trotz unterschiedlicher Einstellungen und Prioritaeten wuenschen sich die Ostdeutschen die DDR-Diktatur nicht zurueck. Dass kein klarer Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden kann, ist nicht allein die Schuld der ehemaligen DDR-Buerger. Es war ein oberstes Bundesgericht, das juengst festgestellt hatte, DDR-Richter duerften fuer Unrechtssprueche nicht zur Verantwortung gezogen werden, weil das Unrecht in der DDR eben Gesetz gewesen sei. Dass die Stasi-Akten zur Unterhaltungsware fuer gewisse Medien verkommen sind, ist ebenfalls nicht Schuld der Ostdeutschen. Es waren die Wortfuehrer der Wende, die sie aufheben und oeffentlich zugaenglich machen wollten, um das Funktionieren des DDR-Unterdrueckungsapparates enthuellen und um die Taeter zur Rechenschaft ziehen zu koennen. Die Diskussion ueber Taeter und Opfer hat sich aber sehr bald verheddert, weil die Taeter nicht Taeter und viele Opfer auch nicht mehr Opfer sein wollten. Das Recht taugt nur bedingt zur Austreibung eines kriminellen politischen Systems, und die Moral ist eine Frage des Anstands.

Diese Erfahrung muss nicht nur der strenge Aktenverwalter Gauck machen, sondern auch das Haeuflein der Buergerrechtler, die ihren Peinigern nicht vergeben wollen, bloss weil, wie viele Ossis meinen, in der alten und neuen Bundesrepublik ja auch nicht alles in Ordnung war und sei. Und seitdem man weiss, dass es ja doch nur wieder die Kleinen trifft, hat die Frage nach der Stasi-Mitarbeit an Brisanz verloren. Markus Wolf wird von einem westdeutschen Gericht Straffreiheit bescheinigt, weil er ein ehrenwerter Spionagechef gewesen sei; Manfred Stolpe bleibt Ministerpraesident und Gregor Gysi im Bundestag. "Man muss ein Schwein sein in dieser Welt", singen die "Prinzen". Aber sie singen auch: "ich waer' so gerne Millionaer" und sind es vielleicht schon. Das ist ein gesamtdeutscher Wunsch, hier entsteht Gemeinsamkeit und hier liegen die Ostdeutschen wegen ihres Nachholbedarfes sogar vorn. Sie beurteilen ihre Verhaeltnisse besser als zur Zeit der Wende, waehrend die Westdeutschen zoegern, wahrscheinlich weil sie an den Solidaritaetszuschlag denken.

Was bedeutet das alles fuenf Jahre danach? Dass Deutschland nicht verloren ist. Bleibt noch die Sache mit der Nation. Ist es eine, sind es zwei, und braucht man ueberhaupt eine? Darueber gibt es zur Zeit eine Debatte unter dem Motto "Rueckkehr zur Normalitaet". Das Beste daran ist, dass sie fast unter Ausschluss der Oeffentlichkeit stattfindet. Ein Zeichen, dass wir schon ziemlich normal sind und wissen, wo Bartel den Most holt. Der Bedarf an Blut und Eisen und patriotischen Gesaengen ist erfuellt.


Das Streiflicht (Sueddeutsche Zeitung)

Das Schoenste an Bayern? Ach, wer das alles aufzaehlen koennte: die Berge, die Schloesser, der Schnupftabak, die Wieskirche. Wer wollte da beckmessern, wer gewichten? Das Schoenste, das steht ja auch in vielen Buechern, ist seit jeher diese wundersame Verschmelzung, die Tatsache, dass hierzulande auch die groessten Gegensaetze einander nicht abstossen, sondern zusammengehoeren, irgendwie: Leib und Seele, Pfarrer und Pfarrerskoechin, die demonstrationsmaessige Rettung des Abendlandes und der anschliessende Besuch auf dem Oktoberfest. Der Bayer ruht in sich, ist ohne Zweifel gluecklich, vor allem ueber sich selbst.

Man koennte es auch etwas weniger launig formulieren: Dem heutigen Bayern ist alles Folklore und nichts wichtig. Wenn hierzulande fuer ein neues Weissbier geworben wird, dann malen die sogenannten Kreativen ein grosses buntes Plakat, auf dem Menschen zu sehen sind, die zu einem Kirchlein wallfahren, worueber dann steht, das sei der Himmel der Bayern, das Weissbier natuerlich. Und wenn der bayrische Ministerpraesident auf seinem Parteitag erklaert, warum wir uns das Kreuz nicht nehmen lassen, dann sagt er, das gehoere zu Bayern wie die Alpen, der Chiemsee und die Weisswuerste.


Nein, das war jetzt ungerecht: Die Weisswuerste hat Stoiber nicht erwaehnt,

sie haetten aber unbedingt dazugehoert, schon wenn man bedenkt, dass die vorletzte grosse Demonstration, bei welcher der Ministerpraesident gesprochen hat, vor ebenfalls Zehntausenden von Begeisterten, jene zur Rettung der Biergaerten gewesen ist, die wir uns ebenfalls nicht nehmen lassen. So weit wird Karlsruhe aber auch nicht gehen wollen, so tollkuehn ist es nicht.

Auf diesem Umweg sind wir nun endlich beim bayrischen Innenmininster Beckstein gelandet, auch einem der grossen Bewahrer und Fortentwickler der bayerischen Tradition. Einerseits erfordert diese Tradition ja hartes Hinlangen, wie wir spaetestens seit dem Tag wissen, an dem M. Streibl die Weltpresse im hiesigen Brauchtum unterrichtet hat. Anderseits, bei uns passt eben alles zusammen, steckt in jedem harten bayerischen Manne immer wieder auch ein Kern, der bei Bedarf weich wird. Aus diesem Grunde hat Guenther Beckstein angeordnet, dass die beiden Kinder des Kurden Simsek, drei und vier Jahre alt, bis auf weiteres doch nicht in Abschiebehaft muessen, obwohl das nur recht und billig waere und er es sich jederzeit wieder vorbehalten muss. Vielleicht denkt er ja, dass manches dann doch nur schwer zusammengeht, zu manchen Zeiten: Oktoberfest und Kruzifixe und Kleinkinder in Abschiebehaft. An diesem Feingefuehl, auch eine unserer besten Eigenschaften, sollen sich die anderen ruhig ein Beispiel nehmen: Schoen waere in diesem Zusammenhang ein Brief des bayrischen Innenministeriums an die tuerkische Geheimpolizei mit der Bitte, dieses Jahr an Weihnachten nicht zu foltern.


Quellen

Radio 7    8:00 MEZ    13:00 MEZ
DLF    8:00 MEZ    12:00 MEZ
B5    8:30 MEZ    10:30 MEZ
SDR3    9:00 MEZ    13:00 MEZ
Antenne Bayern    10:00 MEZ    22:00 MEZ
Sueddeutsche Zeitung von Sa./So., den 30.09./1.10.1993