Richard von Weizsaecker ist heute 75 Jahre alt. Er wurde am 15.4.1920 in
Stuttgart geboren, war 10 Jahre lang Bundespraesident und mit Besonnenheit,
diplomatischem Geschick und moralischer Integritaet erwarb er sich in der
ganzen Welt hohes Ansehen. Man sagt auch gerne von ihm, er sei ein Politiker
der alten Schule.
Es war beim Besuch des amerikanischen Praesidenten in Berlin im letzten
Sommer. Bill Clinton hat seine Rede vor dem Brandenburger Tor beendet "Berlin
ist frei !", die Ehrengaeste erhoben sich zum Smalltalk und warteten auf
offiziellen Abtransport. Nur einer von ihnen wartete nicht mit. Er
verabschiedete sich von seinen Nachbarn, schlenderte beiseite, setzte
ploetzlich mit einer eleganten Flanke ueber ein Absperrgitter und schlug sich
in die Buesche Richtung Buero am Kupfergraben. "Hoffentlich", sagte er dort
angekommen zu seinen Mitarbeitern, "hoffentlich hat das kein Fotograf
gesehen".
Drei Tage spaeter kam ein Brief. Inhalt: einige freundliche Saetze und ein
Foto. Es zeigt den Mann mit wehenden weissen Haaren in der Luft bei seiner
Flanke ueber dem Absperrgitter. Da freute er sich herzlich. Der Mann heisst
Richard von Weizsaecker.
Die Geschichte - sie trug sich genau so zu - verraet eine Menge ueber die
innere Verfassung unseres Altpraesidenten. Er selbst beschreibt sich als
Zustand heiterer Gelassenheit. Er geniesse es, nicht mehr im Rampenlicht zu
stehen, sagte er. Aber er geniesst es auch, wenn ihn die Leute auf der
Strasse erkennen und ihn ansprechen. Vieles erledigt er zu Fuss von seinem
Buero aus, gleich gegenueber dem Pergamonmuseum in einem wunderschoen
renovierten alten Haus, in dem 1842 Gustav Magnus das erste physikalische
Institut in Deutschland gruendete. Und so kommt es immer wieder vor, dass ihn
Passanten auf der Strasse fragen: "Sind Sie's wirklich ?" - "Ja, ja", sagt er
dann, "ich bin's" und freut sich, dass ihn die Menschen schaetzen.
20 bis 30 Briefe erhaelt er pro Tag von Buergern, die ihn um Rat fragen
oder um Hilfe bitten, oder die ihn nur einfach gruessen. Sein Buero, eine
Sekretaerin und ein aus der Protokollabteilung des Auswaertigen Amtes
abgestellter Diplomat kommen mit den Antworten kaum nach. Und so beantwortet
er viele Briefe selbst handschriftlich - "Ihr Richard von Weizsaecker".
Nein - Entzugserscheinungen verspuert er keine, die Politik vermisst er
nicht. Neuneinhalb Monate ist es nun her, dass er aus dem Amte schied. Er hat
die Zeit seither konsequent zu nutzen versucht, um seine Batterien wieder
aufzuladen. Zehn Jahre an der Spitze des Staates, zwei Amtsperioden im
Gegensatz zu seinen Vorgaengern Heinemann, Scheel und Carstens, das hat Kraft
gekostet, ist an die Substanz gegangen, auch wenn das Amt an sich keine
politische Macht verleiht. Aufgeladen hat Richard von Weizsaecker, indem er
viel Sport trieb. Man merkts - die 75 sieht man ihm nicht an. Und - indem er
systematisch Gedanken, Notizen und amtliche Hinterlassenschaften geordnet
hat. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft soll daraus ein Buch entstehen.
"Memoiren" oder seine "politischen Erfahrungen", dass weiss er noch nicht
ganz genau. Jedenfalls soll es kein "dicker Waelzer" werden. Mit politischen
Auftritten und Aeusserungen haelt er sich bewusst zurueck. Schliesslich ist
er jetzt, was man einen Privatmann nennt. Aber seine Meinung kriegen die, die
es angeht, schon noch dann und wann zu hoeren. Auch als Rentner bleibt
Richard von Weizsaecker, was er ein Leben lang war: Ein homo politicus.
Die grosse Rede zum 50. Jahrestag des Kriegsendes hat Richard von
Weizsaecker eigentlich schon vor zehn Jahren gehalten: Damals, 1985 gab er
die Antwort auf den Streit von 1995. Seine Worte ueber den 8. Mai 1945 als
"Tag der Befreiung" sind in der ganzen Welt gehoert und in zwanzig Sprachen
uebersetzt worden - die Sprache, die man in der politischen Rechten
Deutschlands verstehen will, war aber offenbar nicht dabei. Auch von
Politikern aus der Partei Weizsaeckers, der CDU, ist naemlich juengst ein
Aufruf unterschrieben worden, in dem vom "Selbstverstaendnis einer
selbstbewussten Nation" gesprochen wird - welches offenbar Beschoenigung und
Relativierung der Naziverbrechen erfordert. Weizsaecker hat dazu beizeiten
das Richtige gesagt, noch bevor das "Wir sind wieder wer"-Gefuehl so manche
Leute trunken machte.
Weizsaecker besitzt in hohem Masse die Gabe, fuer sich einzunehmen: deshalb
gelangen ihm in seiner zehnjaehrigen Amtszeit als Bundespraesident auch
heikle Entscheidungen - die Begnadigung ehemaliger RAF-Terroristen zum
Beispiel. Es wurde ihm vorgehalten, dass er diese Gabe noch mehr haette
nutzen koennen: etwa im Streit um das Asylrecht und auch gegen die
Auslaenderfeindlichkeit.
In der Tat ist Weizsaeckers Ton bei diesen Themen schaefer geworden, seidem
er Albundespraesident ist. Juengst hat seine vehemente Forderung nach
Einfuehrung der doppelten Staatsbuergerschaft aufhorchen lassen. Deutlich
waren seine Mahnungen freilich auch schon zu Amtszeiten, wenn er immer wieder
darauf hinwies, dass das Grundgesetz von der "Wuerde des Menschen" und nicht
von der "Wuerde der Deutschen" spricht. Weizsaecker konnte und kann
Orienterungshilfe geben - weil er Autoritaet, Integritaet und Lebensklugheit
vereint. In seiner Zeit als Praesident, in der Politikverdrossenheit das
Modewort war, wurde an allem und jedem in der Politik gemaekelt: an ihm
nicht. Hellsichtig warnte er nach dem Fall der Berliner Mauer vor neuer
Entfremdung zwischen den Menschen in Ost und West, wollte er - zu Recht - den
Menschen im Osten das Gefuehl ersparen, vierzig Jahre lang vergeblich gelebt
und alles falsch gemacht zu haben. Wer die Sensibilitaet Richard von
Weizsaeckers mit Sanftmut und Weichheit verwechselt, der taeuscht sich.
Konflikte scheute Weizsaecker nie; er pflegte sie freilich nicht mit der
Doppelaxt auszutragen. In der CDU war er wohl der einzige, der Helmut Kohl
erfolgreich Paroli bot. Ohne Ehrgeiz und feinen Machtinstinkt haette der
sueddeutsche Aristokrat seinen Weg nicht gemacht: von vielgeruehmten
Infanterieregiment 9 (das 19 Offiziere im Widerstand verloren hat) zu
Mannesmann, vom Industriellen zum Privatbankier, von kleine Bruder des
grossen Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsaecker zum
populaersten deutschen Politiker.
Ein einzige Mal hat Weizsaecker alle Zurueckhaltung eines Praesidenten,
auch die gebotene, fallen lassen und mit der Doppelaxt gekaempft - als er mit
Macht fuer Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz Partei ergriff. Da war
Liebe im Spiel, die Liebe eines Mannes zu einer Stadt, in der er zur Schule
gegangen war, in der er fuenf Jahre lang Oppositionsfuehrer und in der er
Regierender Buergermeister war.
Dem Praesidenten - auch dem Altbundespraesidenten - sind so viele und so
schoene Kraenze geflochten worden wie keinem anderen deutschen Politiker der
Nachkriegszeit. Er hat sie verdient, weil er den Buergern gezeigt hat, dass
Ehrlichkeit und Politik gut zusammenpassen. Um gehoert zu werden, braucht
Richard von Weizsaecker sein Amt nicht mehr. Auch das hat er sich verdient.
Wir hoeren ihn gerne - auch nach seinem 75. Geburtstag, den er am heutigen
Samstag begeht - Herzlichen Glueckwunsch, Richard von Weizsaecker !
Fuehrende Politiker wuerdigten zum 75. Geburtstag die Leistungen
Weizsaeckers. Sein Nachfolger Roman Herzog sagte, Weizsaeckers Leben habe
ganz im Dienste der Republik gestanden. Im Wortlaut schrieb Herzog an
Weizsaecker: "Ihr Leben bezeugt, dass Sie im hoechsten Masse die Gabe hatten,
Verantwortung fuer unsere Gesellschaft und unseren Staat zu tragen."
SPD-Chef Scharping sagte, Weizsaecker habe durch seine Persoenlichkeit und
durch die Kraft des Wortes das Ansehen Deutschlands nach Innen wie nach
Aussen gepraegt. Der fruehere Aussenminister Hans-Dietrich Genscher nannte
Weizsaecker einen Gluecksfall fuer Deutschland, der in unvergleichlicher
Weise fuer die innere Integration der Deutschen gewirkt habe.
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