GERMAN NEWS
DEUTSCHE AUSGABE
Mi, 23.08.1995



* Kohl trifft sich mit Buergerrechtlern
* Proteststimmung bei der DASA
* Kinkel bespricht Fluechtlingsproblematik in Zaire
* Polizei informierte Oeffentlichkeit nach Chaostagen in Hannover falsch
* Schroeder muss nicht mit juristischen Konsequenzen rechnen
* Beitraege zur Rentenversicherung sollen steigen
* Urteil zur Gleichbezahlung
* Staedte- und Gemeindebund schliesst Grundsteuererhoehung nicht aus
* Bauland soll billiger angeboten werden
* Abschiebungen ausgesetzt
* Ostseeraum soll besonders foerderungswuerdiges Gebiet werden
* Belgische Polizei nimmt deutsche Hooligans fest
* Peter Graf will mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten
* Van Almsick verbummelt Finallauf - Gold fuer Kerstin Kielgass
* Fussballaenderspiel Belgien - Deutschland
* Boerse
* Nicht aergern, nur nachdenken (Sueddeutsche Zeitung)



Kohl trifft sich mit Buergerrechtlern

Ueber Probleme der Deutschen Einheit hat Bundeskanzler Kohl heute mit ehemaligen Buergerrechtlern diskutiert. Der Anlass: vor genau fuenf Jahren hatte die Volkskammer das Ende der DDR und die Wiedervereinigung beschlossen. Das Treffen fand im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg in der Wohnung der Mitbegruenderin des Neuen Forums, Baerbel Bohley, statt. Nach Ansicht der Buergerrechtler wird nach wie vor versucht, die SED-Diktatur zu verharmlosen. Kohl sagte, er wolle sich dafuer einsetzen, dass die Verbrechen und Unrechtstaten nicht unter den Teppich gekehrt werden. Nach dem zweistuendigen Gespraech aeusserte sich Baerbel Bohley in einem Interview zu Gemeinsamkeiten mit dem Kanzler: ".. vor allem natuerlich was die ganze Problematik anbelangt; Aufarbeitung - warum wird die DDR so nostalgisch gesehen und was muss man dagegen tun. Ich glaube einfach - und ich glaube, das denkt er auch- dass dieser nostalgische Blick sozusagen die Aktivitaeten fuer die Gegenwart einfach behindert." Helmut Kohl aeusserte sich ebenfalls in einem Interview: "Das Thema, das uns gemeinsam bewegt ist, dass wir nicht zulassen wollen und nicht zulassen werden - und das ist die Empfindung von Millionen Menschen in Ost und West in Deutschland - , dass das, was Unrechtsregime war jetzt einfach untergegraben wird, weil es einigen passt."


Proteststimmung bei der DASA

Proteststimmung bei der DASA-Belegschaft in Bremen. Auf einer Betriebsversammlung machten die Beschaeftigten klar, dass sie den geplanten Abbau von 2200 Arbeitsplaetzen nicht kampflos hinnehmen wollen. Jeder zweite Arbeitsplatz ist in Gefahr. Dies war Grund genug fuer Betriebsversammlungen an allen acht DASA-Standorten. Obwohl die Produktion der Airbusse in den letzten Jahren Gewinne brachte ist der Konzern in der Krise. Die Ursache: Die Gewinne der DASA werden vor allem durch die Verluste der niederlaendischen Tochter Focker aufgezehrt. Auch der Bremer Wirtschaftssenator will nicht fuer dieses Minus bezahlen. Minister Perschau: "Eins muss ganz klar sein: der Bund und auch die Laender koennen nur eine Wertschoepfung foerdern, die auch in Deutschland stattfindet. Und dieses gilt fuer unsere Landesfoerderung und auch fuer die Bundesfoerderung. Insofern meine ich, dass hier wohl das letzte Wort wohl noch nicht ernsthaft gesprochen sein kann." Dafuer, dass der Verlustbringer Focker unter das Dach der DASA kam machen die Betriebsraete den Ehrgeiz des heutigen Konzernchefs Juergen Schremp verantwortlich. Sie halten seinen Expansionskurs und nicht den schwachen Dollar fuer die Ursache der Malaise heute. Nach der Versammlung kuendigten die Betriebsraete an, dass Arbeitsverkuerzung und Streiks bei der DASA nicht mehr auszuschliessen seien.


Kinkel bespricht Fluechtlingsproblematik in Zaire

Bonn/Kinshasa. Bundesaussenminister Kinkel hat die Regierung von Zaire dazu aufgerufen, Fluechtlinge aus Ruanda nur nach Absprache mit den Vereinten Nationen und der ruandischen Regierung in ihre Heimat zurueckzuschicken. Kinkel sagte, es duerfe nicht zu einem neuen Fluechtlingsdrama in der Region kommen. Die Behoerden in Kinshasa verteidigten die Abschiebung tausender Fluechtlinge nach Burundi und Ruanda. Zum Schutz der eigenen Bevoelkerung sei dies notwendig, sagte der Aussenminister Zaires. Aus Furcht vor ihrer Ausweisung hatten sich zehntausend Fluechtlinge im Bergland Zaires versteckt. Die Ruander halten sich seit dem vergangenen Jahr in Zaire auf, nachdem ein Buergerkrieg ihre Heimat verwuestet hatte.


Polizei informierte Oeffentlichkeit nach Chaostagen in Hannover falsch

Hannover. Die Polizeifuehrung in Hannover hat die Oeffentlichkeit nach den sogenannten Chaostagen offenbar falsch informiert. Das berichtet die "Hannoversche Allgemeine Zeitung". Dem Blatt liegt demnach ein Einsatzprotokoll vor, das Aussagen von Polizei und Innenministerium auf einer Pressekonferenz in mehreren Punkten widerlegt. Unter anderem haetten die Einsatzkraefte bereits zu Beginn des Punkertreffens vor enormer Gewaltbereitschaft gewarnt. Die Polizei hatte dagegen behauptet, von dem grossen Gewaltpotential voellig ueberrascht worden zu sein.

Niedersachsens Innenminister Glogowski hat nach Bekanntwerden der polizeilichen Funkprotokolle erneut Fehler der Einsatzleitung eingeraeumt. Zugleich wiesen Glogowski und Polizeipraesident Sander heute die Vorwuerfe zurueck, die Oeffentlichkeit sei falsch informiert worden. Der Minister versicherte, es gebe keinerlei Absicht, etwas zu verschleiern. Sander wies abermals darauf hin, dass die Polizeikraefte von der neuen Dimension der Gewalttaetigkeit von Seiten der Punks ueberrascht gewesen seien. Bei den Chaostagen vor zweieinhalb Wochen waren rund 180 Polizisten und 200 Jugendliche verletzt worden.


Schroeder muss nicht mit juristischen Konsequenzen rechnen

Celle. Niedersachsens Ministerpraesident Schroeder muss wegen seiner Aeusserung, Lehrer seien faule Saecke, keine juristischen Konsequenzen fuerchten. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle wies die Beschwerde von zwei Lehrern gegen eine Entscheidung der Werdener Staatsanwaltschaft zurueck. Diese hatte es abgelehnt, Schroeder strafrechtlich zu verfolgen. Die Celler kam zu den Ergebnis, dass Schroeder mit seiner Aeusserung in einer Schuelerzeitung kein Werturteil ueber ganz bestimmte Personen abgegeben habe.


Beitraege zur Rentenversicherung sollen steigen

Bonn. Die Beitraege zur Rentenversicherung werden in den naechsten Jahren wieder steigen. Nach den Berechnungen der Bundesregierung muessen die Beitraege im kommenden Jahr um ein halbes Prozent angehoben werden - von derzeit 18.6 auf 19.1 Prozent. Das gab die Bundestagspressestelle bekannt. Grund seien die gestiegenen Rentenausgaben in den neuen Bundeslaendern.


Urteil zur Gleichbezahlung

Sieben Verpackerinnen aus Nordrhein-Westfalen sind vor dem Bundesarbeitsgericht mit ihrem Versuch gescheitert, den gleichen Lohn wie ihre maennlichen Kollegen zu erstreiten. Das Gericht folgte dem Einwand des Unternehmens, die Maenner seien auch fuer koerperlich schwere Taetigkeiten und nur voruebergehend im Verpackungsbereich eingesetzt worden. Die Richter korrigierten damit die vorangegangene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, die den Frauen den Differenzbetrag zugestanden hatte. Bei dem Verfahren ging es, so der Senat, nicht darum, ob eine grundsaetzlich bessere Gehaltseinstufung der Maenner in dem Unternehmen gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoesst.


Staedte- und Gemeindebund schliesst Grundsteuererhoehung nicht aus

Der Deutsche Staedte- und Gemeindebund hat eine moegliche Erhoehung der Grundsteuer heute nicht mehr ausgeschlossen. Der Praesident des Verbandes, Karl Maier, sagte heute in Bonn, die dramatische Finanzlage koennte die Kommunen schon 1997 zu einem solchen Schritt zwingen. Er forderte Bund und Laender auf, den Gemeinden mehr Geld zur Verfuegung zu stellen. Die Sozialhilfekosten, die Schaffung von Kindergartenplaetzen und andere Kommunalausgaben stiegen weit staerker als die Steuereinnahmen. Zahlreiche Gemeinden planten deswegen auch eine Verpackungssteuer sowie ein Entgelt von den Telekommunikationsfirmen fuer die Nutzung von Grund und Boden.


Bauland soll billiger angeboten werden

Der Hauptverband der Bauindustrie und der Ring deutscher Makler haben die Kommunen aufgefordert, Bauland billiger anzubieten. Auch die Erschliessungskosten koennten reduziert werden. Dies, so Sprecher beider Verbaende im Saarlaendischen Rundfunk, sei Voraussetzung dafuer, dass die von Bonn geforderten preisguenstigen Eigenheime gebaut werden koennen. Die Kosten fuer Grundstuecke machten in Deutschland im Schnitt 40 % der Bausumme aus. Im benachbarten Ausland seien die Preise viel niedriger.


Abschiebungen ausgesetzt

Sieben sudanesische Asylbewerber, die sich seit zwei Wochen auf dem Frankfurter Flughafen im Hungerstreik befinden, duerfen vorerst nicht abgeschoben werden. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wies heute zwar ihre Beschwerden gegen die Abschiebung zurueck, die Richter forderten die Asylbewerber jedoch auf, Aenderungsantraege zu ihren Asylbegehren zu stellen. Gleichzeitig ordnete das Gericht an, dass die Abschiebung der sieben bis zur Pruefung dieser neuen Antraege ausgesetzt wird.


Ostseeraum soll besonders foerderungswuerdiges Gebiet werden

Der Ostseeraum soll innerhalb der Europaeischen Union aehnlich wie die Mittelmeerregion als besonders zu foerderndes Gebiet ausgewiesen werden. Dieses Ziel formulierten die Umweltminister aus Deutschland, Daenemark, Finnland, Norwegen und Schweden heute auf ihrem Treffen in Kiel. Die Bonner Ressortchefin Merkel erklaerte, die Lobby der Ostsee in der EU muesse verstaerkt werden. Schleswig-Holsteins Ministerpraesidentin Simonis forderte, in Bruessel einen Ostseeumweltfonds zu schaffen. Damit koennten der Artenschutz, sowie natuerliche Kuesten- und Landschaftsgebiete besser gefoerdert werden.


Belgische Polizei nimmt deutsche Hooligans fest

Bruessel. Die belgische Polizei hat vor dem Fussballaenderspiel Belgien gegen Deutschland am Abend in Bruessel mindestens 70 deutsche Hooligans festgenommen. Nach Angaben eines Polizeisprechers hatten einige der Festgenommenen ein Geschaeft gepluendert. Die Skinheads hatten im Zentrum von Bruessel Passanten angefallen und belaestigt. Die deutschen Behoerden haben angeblich rund 600 der zu dem Fussballspiel erwarteten 2000 deutschen Fans als gewalttaetige Hooligans eingestuft.


Peter Graf will mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten

Mannheim. Der wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung verhaftete Peter Graf will umfassend mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten. In einem Zeitungsbericht hiess es, Graf entbinde seinen Steuerberater von der Schweigepflicht. Er werde ausserdem aufgefordert, alle Informationen herauszugeben. In Kuerze wolle Graf selbst ueber seine Verteidiger eine umfassende Stellungnahme abgeben. Peter Graf sitzt seit Anfang August in Untersuchungshaft.


Van Almsick verbummelt Finallauf - Gold fuer Kerstin Kielgass

Zweiter Wettbewerbstag bei der Schwimmeuropameisterschaft in Wien. Trotz des Blackouts von Franziska van Almsick konnte der Deutsche Schwimmverband vier Medaillen auf seinem Konto verbuchen. Den Auftakt machte Christof Wandratsch aus Burghausen auf der neuen Donau mit seinem Sieg ueber 25 km. Dann kam Kerstin Kielgass sozusagen als Vertreterin fuer Franziska van Almsick ueber 200 m Kraul zum Zuge. Sie holte sich ihren ersten grossen Einzeltitel. Zwar war Franziska van Almsick, die den Vorlauf verschlafen hatte, fast drei Sekunden schneller als Siegerin im B-Finale, aber gewonnen ist gewonnen, die Europameisterin heisst Kerstin Kielgass. Den Schlusspunkt setzten dann Christian Keller, Oliver Lampe, Thorsten Spanneberg und Steffen Zesner in der 4 mal 200 m Kraulstaffel, die mit 7:18.22 vor dem Titelverteidiger und Weltmeister Schweden und Italien gewannen und damit an eine langjaehrige Tradition, die allerdings ein paar Jahre unterbrochen worden war, anknuepften. Eine Silbermedaille fuer Jan Hempel aus Dresden im Turmspringen rundete den Tag in Wien ab.


Fussballaenderspiel Belgien - Deutschland

Das heutige Freundschaftsspiel zwischen den Auswahlmannschaften Belgiens und der Bundesrepublik Deutschland endete in Bruessel mit 1:2 fuer Deutschland. Die Torschuetzen: Andi Moeller (0:1, 7. Min), Michael Goosens (1:1, 16. Min) und Fredi Bobic (1:2, 83. Min)


Boerse

DAX       2263 (-5) Punkte
1 US-$    DM 1.4823

(Angaben ohne Gewaehr)



Nicht aergern, nur nachdenken (Sueddeutsche Zeitung)

(von Dagmar Deckstein)

Auch an jedem noch so unausgegorenen Politikvorschlag steckt gewoehnlich ein Koernchen Wahrheit und nicht jede Komparsennummer im Sommertheater ist nur deswegen als Pausenfueller wenig ernst zu nehmen. Wenn die beiden Koalitionspolitiker Julius Louven (CDU) und Gisela Babel (FDP) zum Abschluss der Bonner Sommerloch-Schauspiele das muede Publikum mit dem sattsam bekannten Stueck "Lohnkuerzungen im Krankheitsfall" enervieren, dann wirft das eher ein Licht auf den Zustand der Politik im Land. Ihr Vorschlag, kranken Arbeitnehmern zwei Wochen lang bis zu 20 Prozent den Lohn zu kuerzen, taugt zu nichts anderem, als Gewerkschaften, SPD und Sozialpolitiker der eigenen Partei wie wildgewordene Furien aufmarschieren und "Angriff auf den Sozialstaat" wettern zu lassen. Dass Gewerkschafter auch noch drohend ihre Kanonen "Streik" und "Verfassungsklage" vorzeigen, versteht sich fast von selbst.

Kabale und Leidenschaft also, Aerger und Aufruhr - und wieder nicht die geringste Chance, politisch behutsam und vernuenftig ueber ein Thema nachzudenken, das des Nachdenkens wirklich wert waere: Wie koennte es gelingen, die in Deutschland ausserordentlich hohen Lohnnebenkosten auf ein Mass zu senken, das allen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ertraeglich und zumutbar ist? Und ist die Lohnfortzahlung in voller Hoehe vom ersten Krankheitstag an, von den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften 1957 wochenlang erstreikt, ein unabdingbarer Besitzstand der Beschaeftigten? Ruettelte etwa auch nur die Einfuehrung eines einzigen Karenztags zum Beispiel, also ein Krankheitstag, an dem kein Lohn gezahlt wird, schon an den Grundfesten des sozialen Sicherungssystems?

So wie diese Einzelbeispiele von Arbeitgebern und Politikern staendig vorgefuehrt werden als Beweise dafuer, dass der "ausufernde Sozialstaat" langsam unbezahlbar werde, dass deren Kosten den Wirtschaftsstandort gefaehrden und dass nun endlich Schluss sein muesse mit dem Missbrauch von Sozialleistungen - in diesem Fall mit "blaumachen" - so ruetteln die Schaerfe der Kritik und der Unterton der Ausfuehrungen tatsaechlich immer vehementer am sozialen Konsens dieser Gesellschaft. Ob nun die Lohnfortzahlung bei Krankheit in die Arena gezerrt wird oder auch das neueste Argument der Metallarbeitgeber, dass das in Deutschland tariflich gewaehrte Urlaubsgeld weltweit einmalig und ueberpruefungsbeduerftig sei, da es sich naemlich um Lohn fuer nichtgeleistete Arbeit handle - unertraeglich sind nicht einmal so sehr solche Vorschlaege, unertraeglich ist vielmehr dieser sich offensichtlich neu formierende Konsens in Wirtschafts- und Arbeitgeberverbaenden. Dieser neue Konsens laeuft auf die Absicht hinaus, die menschliche Arbeitskraft wie zu Zeiten des Fruehkapitalismus als Ware wie jede andere auch zu betrachten. Aber die Grundannahme aller in Sonntagsreden gerne gepriesenen sozialstaatlichen Fortentwicklungen der modernen Industriegesellschaft ist und war ja gerade diejenige, dass der Mensch keine staendig leistungsbereite Maschine ist, dass er krank, alt, arbeitslos und pflegebeduerftig werden kann, dass er mehr ist als die Summe seiner verwertbaren Muskelkraefte und Geistesblitze.

Dass der Sozialstaat im Laufe der letzten Jahrzehnte von der Politik als gutgeoelte, waehleraktivierende Wohltaten-Zuteilungsmaschine missbraucht wurde, die auf Dauer immer schwerfaelliger in Schwung gehalten werden kann, ist eine Sache. Eine andere ist, staendig an irgendwelchen Einzelphaenomenen herumzunoergeln - von der angeblich zu hohen Sozialhilfe bis hin zum Dauerbrenner Lohnfortzahlung -, anstatt ein schluessiges und gerechtes Konzept zur Renovierung des Sozialstaates auszudenken. Alle sogenannten Lohnersatzleistungen wie etwa Arbeitslosengeld und -hilfe, Rente, Arbeitsfoerderung oder Sozialhilfe werden nicht in voller Hoehe des vorher verdienten Lohnes gezahlt; allein bei Krankheit gibt es vom ersten Tag an den vollen Lohn. Da dieser Anspruch aber fuer 85 Prozent der Beschaeftigten tarifvertraglich gesichert ist, muss es auch Sache der Tarifpartner sein, daran etwas zu aendern. Und nur nebenbei: Alle tariflichen "Wohltaten", die Arbeitgeber in der Vergangenheit vertraglich mitunterzeichnet haben, gewaehrten sie ja nicht aus einer zufaelligen Spendierlaune heraus; ausschlaggebend war immer die hohe Leistungsfaehigkeit und Produktivitaet der Beschaeftigten.

Wo es Leistung gibt, gibt es immer auch den Missbrauch von Leistungen. Aber eine Ungerechtigkeit, so aergerlich sie sein mag, mit einer anderen Ungerechtigkeit bekaempfen zu wollen, ist erst recht aergerlich. So aergerlich eben wie jener Vorschlag der beiden Koalitions-Sozialpolitiker, mit einer Kuerzung der Lohnfortzahlung auch Kranke zu bestrafen und nicht nur diejenigen, die "blaumachen". Und wer vom Missbrauch der einzelnen redet, darf vom milliardenteuren Missbrauch des Staates nicht schweigen. Dass sich der Bund schamlos und systemwidrig an den Geldern der Beitragszahler der Sozialversicherung bedient, um damit beschaeftigungspolitische Ausgaben und Sozialtransfers nach Ostdeutschland zu finanzieren , muesste die Oeffentlichkeit viel mehr aufbringen als jene Einzelfaelle von sogenanntem Schmarotzertum. Wuerden diese versicherungsfremden Leistungen des Staates aus Steuermitteln finanziert, wie es sich gehoerte, koennten Beitrage und damit Lohnnebenkosten um einige Prozentpunkte gesenkt werden.


Quellen

SDR3    9:00 MESZ    11:00 MESZ    13:00 MESZ
B5    15:30 MESZ    17:30 MESZ
DLF    17:00 MESZ
ARD    20:00 MESZ
Antenne Bayern    20:00 MESZ
Sueddeutsche Zeitung vom Mittwoch,    23. August    1995