Ansprache des Bundeskanzlers Helmut Kohl zum Tag der Deutschen Einheit |
Liebe Mitbuergerinnen und Mitbuerger. Heute jaehrt sich zum fuenften Mal die
Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, das Geschenk der Einheit in Freiheit.
Es ist fuer uns Deutsche ein Grund zur Freude und zur Dankbarkeit. Wir
Deutschen geniessen Freundschaft und Ansehen in der Voelkergemeinschaft. Seit
50 Jahren leben wir in Frieden mit unseren Nachbarn in Europa. Wir werden
alles dafuer tun, dass dies auch in Zukunft so bleibt. In den vergangenen
fuenf Jahren haben wir gemeinsam schon viel erreicht. Der Aufbau Ost findet
weltweite Anerkennung. Andere Laender in Mittel- und Osteuropa muessen mit
weitaus groesseren Schwierigkeiten kaempfen. Nirgendwo sonst in Europa ist
das wirtschaftliche Wachstum so stark wie bei uns in den neuen
Bundeslaendern. Die Zahl der Arbeitsplaetze nimmt dort spuerbar zu. Vielen
Menschen haben wir fuer diese Erfolge zu danken. Ich nenne zum Beispiel die
Arbeiter und Betriebsraete im Chemiedreieck. Oder die auf den Werften an der
Ostsee. Ich denke an all diejenigen, die sich selbstaendig gemacht haben und
heute anderen Arbeit geben koennen. Ich denke an die vielen, die bereitwillig
Verantwortung im sozialen und politischen Bereich uebernommen haben. Mein
Dank gilt ebenso den Menschen im Westen Deutschlands, die durch ihre
tatkraeftige Hilfe den Aufbau Ost ueberhaupt erst ermoeglichten. Wahr ist
auch, dass sich in den vergangenen fuenf Jahren nicht alle Wuensche erfuellt
haben. Die Menschen in den neuen Laendern durchlebten in kuerzester Zeit
dramatische Veraenderungen in allen ihren Lebensbereichen. Ich nehme ihre
Sorgen ernst: Der Aufbau Ost bleibt unsere wichtigste innenpolitische
Aufgabe. Mit Tatkraft und Selbstvertrauen werden wir in ueberschaubarer Zeit
die wirtschaftlichen und sozialen, das heisst die materiellen Probleme
meistern. Auf lange Sicht ist die groesste Aufgabe fuer uns alle das
menschliche Miteinander in Deutschland. Dafuer brauchen wir Geduld, guten
Willen und die Bereitschaft, einander zuzuhoeren. Die innere Einheit, nach
der wir streben, ist Einheit in Vielfalt. Wir Deutsche begegnen einander als
Sachsen und Bayern, als Mecklenburger und Rheinlaender. Jeder von uns ist
seiner Heimat besonders verbunden. Deutschland ist unser Vaterland. Liebe
Mitbuergerinnen und Mitbuerger, am heutigen Tag moechte ich besonders an
jene Frauen und Maenner erinnern, die sich dem SED-Regime tapfer
entgegenstellten. Ihr Vorbild sollte uns Mut machen, mit unserer gemeinsamen
Freiheit verantwortlich umzugehen. Ich danke allen, die Tag ein, Tag aus ihre
Pflicht tun - an ihrem Arbeitsplatz, durch Werke der Menschlichkeit, durch
ihr ehrenamtliches Engagement. Millionen leisten so ihren ganz persoenlichen
Beitrag dazu, unser Land in eine gute Zukunft zu fuehren. Ich wuensche uns
allen viel Glueck und Gottes Segen auf diesem Weg in die Zukunft. |
Zentrale Gedenkfeier zum Tag der Deutschen Einheit in Duesseldorf |
Zum fuenften Mal jaehrte sich heute der Tag der Deutschen Einheit. Die
offiziellen Feiern fanden heute in Duesseldorf statt. Sie begannen mit
einem oekumenischen Gottesdienst in der Duesseldorfer Johannes-Kirche.
Nach dem Gottesdienst fand in der Duesseldorfer Tonhalle der Festakt statt,
an dem unter anderem Bundespraesident Roman Herzog, Bundestagspraesidentin
Rita Suessmuth und Bundeskanzler Helmut Kohl teilnahmen. Auch Buerger waren
anwesend, jeweils 50 aus jedem Bundesland. Die Bundestagspraesidentin und
der Bundesratspraesident hielten die Festreden. Sie forderten die Deutschen
in Ost und West zu mehr gegenseitigem Verstaendnis auf. Ausserdem verlangten
sie einen aufrichtigen Umgang mit der Stasivergangenheit. In der
Duesseldorfer Innenstadt demonstrierten ca. 2000 Menschen gegen die negativen
Folgen der Einheit.
Die Duesseldorfer Polizei hatte sich im Vorfeld auf einen Grosseinsatz eingerichtet. Sie befuerchtete Stoermanoever linker Gruppen. So begleiteten den offiziellen Festakt umfangreiche Sicherheitsmassnahmen. Die wichtigsten Zufahrtsstrassen wurden von der Polizei kontrolliert, um einen friedlichen Ablauf des Gottesdienstes und des Festaktes zu gewaehrleisten. Wenige Stunden vor Beginn des zentralen Festaktes hatten Jugendliche, die nach Angaben der Polizei vermutlich der autonomen Szene angehoeren, Schaufensterscheiben eingeschlagen und die Polizei mit Steinen beworfen.
Die Feiern zum Tag der Deutschen Einheit hatten gestern Abend mit einem Essen
und einer von der ARD veranstalteten Gala mit dem Titel "Deutschland wird 5"
begonnen, zu dem Ministerpraesident Johannes Rau als Praesident des
Bundesrates neben Vertretern aus Politik und Wirtschaft auch 500 wie es hiess
normale Buerger aus den 16 Bundeslaendern eingeladen hatte. |
Ansprache des Bundesratspraesidenten Johannes Rau |
Herr Bundespraesident Herzog, Frau Praesidentin Suessmuth, Frau Praesidentin
Limbach, Herr Bundeskanzler Kohl, meine Damen und Herren. Das Jahr 1995 ist
fuer uns Deutsche ein Jahr des Gedenkens und des Erinnerns. Da gibt es einen
Tag wie den 27. Januar, an dem vor 50 Jahren Auschwitz befreit wurde. Und
einen Tag wie den 8. Mai, an dem vor einem halben Jahrhundert der zweite
Weltkrieg zu Ende ging. Das sind Tage, die uns an das Leid erinneren, das
Deutsche anderen zugefuegt, und sich selber bereitet haben, Tage die nicht
Freude wecken sondern zur Trauer mahnen. Tage, die uns etwas ueber das
Scheitern und nicht ueber das Gelingen von Geschichte sagen. Am 3. Oktober
1990 haben wir Deutsche erfahren, dass uns Geschichte auch gluecken kann. Es
ist der Tag, an dem vor einem halben Jahrzehnt die schmerzliche Geschichte
der staatlichen Teilung der Deutschen ihr unverhofftes Ende fand. Wir
Deutschen haben die Chance bekommen, gemeinsam neu zu beginnen, weil wir aus
unserer Geschichte gelernt haben. Wir haben gelernt, dass nur der
demokratische und soziale Rechtsstaat die Freiheit aller und die Wuerde jedes
Einzelnen sichern kann, dass Friedfertigkeit im Innern und nach aussen
Voraussetzung ist fuer die gute Nachbarschaft, die wir wollen und die wir
brauchen. Das zeigen auch die Feiern zum 3. Oktober, die wir bisher erlebt
haben. Das groesser gewordene Deutschland begegnet uns darin als ein Land,
dass sich nuechtern, unaufgeregt und ohne falsches Pathos seiner selbst
vergewissert. Seiner Schwaechen und Vorzuege. In unserer Geschichte ist das
nicht immer so gewesen. Ich denke an den "Sedantag" im Kaiserreich und an
den "Verfassungstag" der Weimarer Republik. Der eine missriet im Lauf der
Zeit fuer viele zum Symbol des wilhelminischen Hochmuts, der andere wurde
unter dem Druck der Gegner Weimars zum Ausdruck republikanischen Kleinmuts.
Der 3. Oktober ist ein Tag wirklicher Freude. Da ist zu einem gluecklichen
Ende gekommen, was schon vor dem 6. November 1989 in Leipzig die erste
friedliche und demokratische Revolution auf deutschem Boden vorbereitet
hatte und was dann am 9. November in Berlin die Mauer zum Einsturz brachte.
Darauf koennen vor allem die Menschen stolz sein, die bei Friedensgebeten,
bei Montagsdemonstrationen und in den Gruppen der Buergerrechtsbewegung dabei
mitgeholfen haben, dass der 3. Oktober in unseren Geschichtsbuechern stehen
kann als der Tag, an dem fuer uns Deutsche ein Kapitel erfolgreicher
gemeinsamer Demokratiegeschichte beginnt. Fuenf Jahre sind seit dem 3.
Oktober 1995 vergangen. Das ist Anlass und Gelegenheit zu einer
Zwischenbilanz.
1989/90, das war nicht nur eine Wendezeit, das war zugleich eine
Zeitenwende, aber es war nicht das Ende der Geschichte, wie einige damals
geglaubt hatten. In den Jahren seither war so viel Wandel wie nie. Aus
manchen Bluetentraeumen und Hoffnungen ist Ernuechterung geworden, aus vielen
Aengsten und Befuerchtungen aber auch vorsichtige Zuversicht. Die staatliche
Einheit zustande zu bringen, das war eine schwierige Aufgabe. Sie jetzt auch
zu gestalten ist eine noch viel groessere Herausforderung. Das zeigen auch
die Umfragen aus juengster Zeit. Sie vermitteln kein eindeutiges Bild. Es
gibt ein ueberwaeltigendes Mass an Zustimmung zur deutschen Vereinigung, aber
nach wie vor auch viel Kritik im Osten wie im Westen. Diese Kritik muessen
wir ernst nehmen. Wir Deutsche wuenschen und wollen die Einheit, daran ist
kein Zweifel. Aber nicht wenige von uns bemaengeln die Art und Weise, wie
unser Land zusammenwaechst. Das ist nicht verwunderlich. Denn wir haben uns
mit der Einheit eine Jahrhundertaufgabe vorgenommen. Zusammenfuehren, was
ueber 40 Jahre lang auseinandergezwungen wurde, das braucht Zeit, das geht
nicht ueber Nacht und das kann bei allem guten Willen und bei aller
Bereitschaft zur Solidaritaet auch nicht in wenigen Jahren gelingen. Was wir
aber in den vergangenen fuenf Jahren in gemeinsamer Anstrengung aller Laender
und des Bundes im vereinten Deutschland geschafft und geschaffen haben, das
kann sich sehen lassen, das gibt allen Anlass zur Freude, wenn auch nicht zum
ueberschaeumenden Jubel. Noch ist nicht nachgeholt, was in Jahrzehnten
versaeumt worden ist - und wer wuesste nicht, wieviel neue Schwierigkeiten
hinzugekommen sind. Es gab folgenreiche Fehler. Manche waren unvermeidbar. Und
bei vielen draengenden Fragen haben wir auch heute nicht die richtigen
Antworten gefunden. Wer aber in den neuen Laendern unterwegs ist, der sieht,
wie viel sich schon veraendert hat im Bild der Staedte und Doerfer und im
Leben der Menschen. Altes Grau beginnt zu verschwinden, der Zerfall ist
gestoppt und der Neuaufbau ist im Gange. In kurzer Zeit ist erstaunlich viel
geschaffen worden. Dazu haben viele beigetragen. Die Menschen in den alten
und vor allem die Menschen in den neuen Laendern, die ja die groesste
politische Last der Einheit zu tragen hatten. Die Frauen und Maenner in den
Parlamenten der neuen Laender, die politische Verantwortung uebernommen und
wichtige Weichen in die Zukunft gestellt haben. Und auch die aus dem Westen,
die am Aufbau tatkraeftig mitgeholfen haben und denen das Werk der Einheit
zum Beruf und zur Berufung geworden ist. Ich bin froh darueber, dass heute
einige von ihnen unter uns sind, und ich moechte sie ganz besonders
begruessen. Was sie alle geleistet haben, sollte uns Grund genug sein, nicht
als selbstverstaendlich zu nehmen, was sich seit dem 3. Oktober 1990 in
Deutschland getan hat. Wir sollten, meine Damen und Herren, das Staunen
darueber nicht verlernen, denn aus dem Mut zum Staunen waechst die Faehigkeit
zum Traeumen. Und dann die Kraft zum Handeln. Diese Kraft brauchen wir in
Zukunft. Denn so vieles auch getan worden ist, so vieles bleibt noch zu tun,
vor allem in den Koepfen und in den Herzen der Deutschen. Die aeusseren
Grenzen innerhalb Deutschlands sind verschwunden, die sichtbaren Mauern sind
gefallen, aber Bedenken und Vorurteile haben manche unsichtbaren Graeben
breiter und tiefer gemacht. Das Trennende im Denken und Fuehlen der Menschen
diesseits und jenseits der alten Grenze lebt manchmal fort. Viele begegnen
sich noch immer als Fremde. Nach meinem Eindruck waechst sogar die Scheu,
aufeinander zuzugehen, miteinander zu reden und einander kennenzulernen. Das
muessen wir aussprechen und veraendern, wenn wir weitergehen wollen auf dem
Weg zur inneren Einheit. Das kostet kein Geld, aber es macht Muehe. Und es
ist doch aller Muehe wert. Wir alle wissen, es gibt keine Patentrezepte,
einander naeher zu kommen. Vielleicht genuegen zum besseren Verstehen aber
die guten und wirksamen Hausmittel unserer demokratischen Kultur. Respekt,
Einfuehlsamkeit und gegenseitige Achtung, Toleranz und Solidaritaet. Noch
immer gilt, das Geheimnis der Versoehnung heisst erinnern. Wir Deutsche
erinnern uns an eine gemeinsam erlebte und gemeinsam erlittene, aber auch an
eine geteilte Vergangenheit. Wenn uns dieses historische Bewusstsein nicht zum
Ballast, sondern zu einer Hilfe bei der Gestaltung der Zukunft unseres Landes
werden soll, dann duerfen wir nichts vergessen, nichts verdraengen, dann
muessen wir sensibel bleiben fuer die Leidens- und Lebensgeschichten der
anderen. Darum sage ich, solange Menschen leben, denen in den Jahren der
SED-Diktatur Unrecht geschehen ist, kann es keinen Schlussstrich geben, den
die Opfer als "Schwamm drueber" verstehen muessten. Wo Unrecht veruebt wurde
muss es seine gerechte Strafe finden. Aber ich sage auch, wir koennen nur
Handlungen, nicht Gesinnungen ahnden. Wie jemand gelebt hat, das ist
wichtiger als die Frage, welcher Organisation er angehoert hat. Und darum
sollten wir auch denjenigen eine faire Chance geben, die in der DDR beruflich
oder politisch ihren Weg gegangen sind. Unser demokratisches System ist
gefestigt genug, allen ein Angebot zu machen und niemanden auszuschliessen.
Das kann uns gelingen, weil unsere Demokratie haelt, was sie verspricht.
Vielen Menschen im Osten erscheint die neugewonnene Freiheit grauer, als
ehedem der Traum von ihr war. Ist es da nicht verstaendlich, dass in der
Erinnerung mancher verblasst, wie laehmend und damit truegerisch die alten
Sicherheiten waren und welch hohen Preis sie dafuer bezahlen mussten? Das
Leben in den neuen Laendern ist nicht leichter geworden. Aber was die
Menschen dort an echter Freiheit hinzugewonnen haben gibt ihnen jetzt
groessere Chancen, selbstbewusst zu leben und selbstverantwortlich zu handeln.
Wir koennen die Buergerinnen und Buerger der ehemaligen DDR nur dafuer
gewinnen, diese Chancen wahrzunehmen, wenn wir ihnen nicht das Gefuehl
vermitteln, dass ihr frueheres Leben heute nichts mehr wert sei, dass sie
gewissermassen umsonst, vergeblich gelebt haetten. Der Stolz auf das, was man
geleistet hat, alte Anhaenglichkeiten an Freunde, an Nachbarn und Kollegen,
Klagen ueber den Verlust liebgewordener Gewohnheiten, das ist etwas ganz
anderes als DDR-Nostalgie. Wir sollten das nicht verwechseln mit dem Wunsch,
zu alten Verhaeltnissen zurueckzukehren. Und erst recht nicht mit falschem
Stolz auf das Regime und seine angeblichen Errungenschaften. Wer das
vermischt leitet Wasser auf die falschen Muehlen. Wir tun gut daran, die
Lebenserfahrungen der Menschen im Osten zu achten und nicht achtlos beiseite
zu schieben. Sonst wird Integration nur ein anderes Wort fuer Anpassung. Und
sonst wird aus dem Zusammenwachsen die Unterordnung des einen Teils unter den
anderen. Die Faehigkeiten und Fertigkeiten, die aus diesen Lebenserfahrungen
erwachsen helfen uns auch, besser vorbereitet zu sein fuer die Zukunft. Ich
denke an die im Osten besonders ausgepraegte soziale Sensibilitaet, an den
Sinn fuer mitmenschlichen Zusammenhalt, fuer gute Nachbarschaft, der da weit
entwickelt ist. Ich denke an die Faehigkeit, private Netzwerke zu entwickeln
und an die Faehigkeit, auch einmal Mangel auszuhalten. Ich meine
schliesslich den Mut, die grossen Veraenderungen der letzten fuenf Jahre
nicht nur passiv zu dulden, sondern aktiv mitzugestalten. Diesen Mut haben
die Menschen in den neuen Laendern eindrucksvoll bewiesen. Was waer das fuer
eine Chance fuer unser ganzes Land, wenn wir die Lebenserfahrungen der
Menschen im Osten wie im Westen auf gleiche Weise und gleichberechtigt
aufnaehmen und ernst naehmen. Wir waeren klug geworden aus unserer
schmerzlichen Teilungsgeschichte. Dann wuechse zusammen, was zusammengehoert,
dann koennte das Werk der Einheit ein Werk der Versoehnung werden. Wenn wir
lernten, nicht als Defizit zu beklagen, was uns unterscheidet, wenn wir es
als Chance begriffen, dann waere mir nicht bange, dass wir mit ganzer Kraft
die gemeinsamen Herausforderungen meistern, die vor uns liegen und vor die
wir auch morgen gestellt sind. Wir Deutsche haben laengst mehr gemeinsame
Probleme als es vielen von denen erscheinen mag, die unser Land vor allem aus
der Perspektive des Ostlers oder des Westlers sehen. Aufbau im Osten. Aber
nicht Abbau im Westen. Weil die Staerke der alten Laender Voraussetzung
dafuer ist, dass sie den neuen Laendern helfen koennen, selber stark zu
werden. Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Leistungsfaehigkeit
schliessen einander nicht aus. Sozialer Friede ist auch ein wirtschaftlicher
Standortfaktor von grossen Gewicht. Wir muessen ihn bewahren. Arbeit und
Umwelt gehoeren zusammen, damit wir vorhandene Arbeitsplaetze sichern und
neue schaffen koennen, weil wir nicht nur Verantwortung fuer uns selber
tragen, sondern auch fuer unsere Kinder und die Welt, in der sie leben
werden. Ist nicht auch der Werteverlust, von dem jetzt so viele sprechen eher
ein Wertewandel, der auch Chancen birgt? Wenn sich gerade heute viele junge
Menschen in unserem Land fuer andere und ueber die eigenen Interessen hinaus
engagieren kann man nicht davon reden, dass ihnen die Gemeinschaft nichts
mehr wert waere. Unser Land waere aermer, wenn es nicht die vielen jungen
Menschen gebe, die aktiv sind in der Welt, in Buergerinitiativen, in
kirchlichen Gruppen, in der praktischen Hilfe, die gegen Fremdenfeindlichkeit
auf die Strasse gehen. Ich bin bei allem Schmerz darueber, dass das nicht
fuer alle gilt froh, dass gerade fuer junge Menschen Gemeinwohl kein
Fremdwort ist. Wir muessen lernen: Einheit ist keine Gleichmacherei, sie hat
nichts zu tun mit Gleichfoermigkeit. Unser Land, die Bundesrepublik
Deutschland, gewinnt seinen Reichtum, seine Anziehungskraft aus der Vielfalt.
Regionale Identitaet ist ein hohes Gut. Aber fuer uns Deutsche gilt auch,
dass wir uns nicht alleine mit uns selber beschaeftigen duerfen. Wir muessen
uns auch sorgen und kuemmern um die, die bei uns fremd sind, die als
Fluechtlinge unsere Hilfe brauchen, und um die, die in Europa und der Welt
unter Armut und Not, unter Unfrieden und Krieg leiden. Ihre Sorgen und Noete
sind groesser als all unsere Probleme, die ich wahrlich nicht kleinreden
werde. Wir Deutsche haben den ehemaligen Alliierten und unseren Nachbarn viel
zu danken. Ohne ihr Ja zur Einheit waeren wir nicht da, wo wir heute sind.
Wir werden gute Nachbarn sein und wo es moeglich ist gute Freunde. Wir
Deutsche wollen aktiv mithelfen dabei, Frieden zu bewahren und zu sichern.
Von unserem Land soll Friede ausgehen. Das Werk der Deutschen Einheit ist
laengst nicht vollendet. Aber wir sind auf einem guten Weg. Darum duerfen wir
nicht ungeduldig werden und darum muessen wir beharrlich bleiben. Wir muessen
der Sache der Einheit Zeit geben, in den Koepfen der Menschen zu wirken und
ihre Herzen zu erweichen. Wenn alle mittun, wenn keiner sich ausschliesst und
wenn wir niemanden ausgrenzen, dann wird das Werk gelingen. Glueck auf - und
Gottes Segen fuer unser Land. |
Ansprache der Bundestagspraesidentin Rita Suessmuth |
Herr Bundespraesident, Herr Praesident des Bundesrates, Herr Bundeskanzler,
Frau Praesidentin des Bundesverfassungsgerichtes, Exzellenzen, Kolleginnen
und Kollegen, sehr verehrte Gaeste. Fuenf Jahre Deutsche Einheit. Seit Wochen
ziehen wir Bilanz auf Bilanz, wollen wissen, was wir erreicht haben und was
noch zu tun ist. Was geschaffen wurde ist trotz aller Schwierigkeiten
eindrucksvoll, ist eine Gemeinschaftsleistung aller Deutschen. Aber
unverkennbar haben die Menschen in den neuen Bundeslaendern den groessten
Anteil an dieser gewaltigen Leistung. Sie haben ihr Land in fuenf Jahren mit
hohem persoenlichen Einsatz und in einem atemberaubenden Tempo veraendert.
Aufbruch, den wir staendig einfordern, wird taeglich praktiziert. Anerkennung
und Dank kann an diesem Tag nur unsere Antwort sein. Dieser Bilanzierung
wuerde Entscheidendes fehlen, wenn wir nicht zugleich fragten, was haben wir
in diesen Jahren voneinander und fuereinander gelernt? Was haben wir
miteinander erfahren und wie nutzen wir diese Erfahrungen fuer unser weiteres
Zusammenwachsen in Deutschland und in Europa?
Rufen wir uns kurz in Erinnerung, was die Menschen im Herbst und im Winter 1989/90 auf den Strassen bewegte. Sie wollten den Sturz der SED- und der Stasiherrschaft. Sie wollten Rechtstaatlichkeit und Demokratie, soziale Marktwirtschaft und die Einheit. Aber was sie auch wollten hat Lothar de Maiziere in seiner Regierungserklaerung am 19. April 1990 einfuehlsam und praegnant zum Ausdruck gebracht. Sie wollten die Einheit und das Zusammenwachsen auf der Grundlage von Gleichberechtigung, Achtung der eigenen Wuerde und der eigenen Lebensleistung. Es heisst in der Regierungserklaerung, Zitat: "Wir bringen ein unser Land und unsere Menschen. Wir bringen geschaffene Werte und unseren Fleiss ein. Unsere Ausbildung und unsere Improvisationsgabe. Wir bringen unsere Sensibilitaet fuer soziale Gerechtigkeit, fuer Solidaritaet und Toleranz ein. Wir bringen unsere Identitaet ein und Wuerde. Unsere Identitaet, das ist unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistungen." Diese Aussage gilt 1995 nicht weniger als 1990. Was de Maiziere formuliert hat eine existenzielle und programmatische Ebene. Sie trifft den Kern auch meiner wichtigsten Erfahrungen seit den fruehen Begegnungen mit den Menschen in den neuen Bundeslaendern. Dort oeffentlich zu sprechen hat mir in der Anfangszeit erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Was wusste ich von ihrem Alltag, ihren Einstellungen, ihrem Lebensgefuehl wirklich? Von Begegnung zu Begegnung aber wuchs eine Gewissheit: dass wir nur miteinander leben koennen, dass wir einander nur naeher kommen koennen, wenn wir uns gegenseitig mit unseren unterschiedlichen Lebensbedinungen und Chancen annehmen, den anderen annehmen, ihn in seinem Selbstwertgefuehl staerken, statt es ihm zu nehmen. Das war und ist die Voraussetzung fuer Neuanfang und Zukunftsvertrauen. Wenn eines Menschen Leben, seine Erfahrung und seine Leistungen nicht mehr zaehlen, wenn er sie verleugnen und verdraengen muss, kurz, wenn alles was ihn ausmacht nichts mehr wert ist, dann trifft das ihn in seinen tiefsten Schichten seiner Existenz, er fuehlt sich eher wie ein Nichts oder zumindest herabgesetzt und entwertet. Mit Menschen ohne Selbstwertgefuehl laesst sich keine Zukunft bauen. Auch das haben wir in diesen fuenf Jahren erfahren. Wir Menschen koennen unsere Biografien nicht loeschen. Sie sind Teil unserer Gegenwart und Zukunft. Wie oft haben mich Buergerinnen und Buerger wissen lassen, sie fuehlten sich als Deutsche unter Deutschen noch nicht gleichwertig angenommen. Daher bleibt es notwendig, dass wir ihnen und uns immer wieder ihre grosse Leistung bewusst machen. Sie waren es, die den mutigen Vorstoessen der Buergerrechtler folgten und sich im Herbst 1989 gegen das SED-Regime erhoben haben. Sie haben die erste friedliche Revolution auf deutschem Boden gegen Unrecht und Unfreiheit durchgesetzt. Was kann das Selbstwertgefuehl mehr staerken als diese historische Leistung fuer alle Deutschen? Ich denke, wir haben ermessen, zu welch ungewoehnlichen Leistungen Menschen faehig sind, wenn sie sich Freiheit erkaempft haben und Zutrauen. Die friedliche Revolution in der DDR, die Zeit der runden Tische, die vielen Menschen, die in die kommunalen Parlamente, in die Kreis- und Landesparlamente gegangen sind und dort beigetragen haben, sind ein Beispiel fuer den gelungenen Umgang der Menschen mit Freiheit, die ihnen Jahrzehnte vorenthalten wurde und in die sie nicht eingeuebt waren. Hierhin gehoeren auch die vielen Beispiele von Menschen, die inzwischen von der zurueckgewonnenen Freiheit Gebrauch gemacht haben und initiativ geworden sind, sei es um sich eine neue wirtschaftliche Existenz aufzubauen, sei es, um fuer andere eine Existenz zu schaffen und um ihr und unser Land zu veraendern. Und ich beziehe all jene aus der alten Bundesrepublik ein, die nicht gezoegert haben, bei der grossen Aufgabe zu helfen, die vertrauten Lebensverhaeltnisse zu verlassen, sich aufzumachen und anzupacken. Sicher, es waren auch Raubritter unterwegs. Sie haben verantwortliches wirtschaftliches Handeln im Sinne der sozialen Marktwirtschaft diskreditiert. Aber das kann nicht jene beschaedigen, die in Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung, Kultur, Verbands- und Vereinsarbeit durch ihre Taten Missstaende beseitigt, neue Strukturen aufgebaut haben. Ich danke all jenen, die spontan verstanden haben, dies ist unser gemeinsames Vaterland, es geht uns alle an, ist unsere gemeinsame Zukunft. Und vergessen wir auch nicht die kulturelle Leistung der Menschen in der frueheren DDR. Dies hat Wolfgang Thierse plastisch beschrieben, als er davon sprach, welche Bedeutung der Kultur jener Zeit fuer mitmenschliches Ueberleben zukam. Waehrend der Zeit der staatlichen Trennung waren Kultur und Kunst wesentliche tragfaehige Grundlage fuer das Bewusstsein der Deutschen von der fortbestehenden Einheit der Nation. Fuer unser heutiges Zusammenleben bleiben sie vorbildhaft und von identitaetsstiftender Wirkung. Gerade in der Kultur sind Leistungen erbracht worden, die fortgesetzt werden muessen - auch als Gegengewicht zur Oekonomie.
Insgesamt beobachten wir: Das Selbstwertgefuehl und Selbstbewusstein
erstarkt wieder. Unser Zusammenwachsen macht Fortschritte. Menschen aller
Altersgruppen, zunehmend auch mehr junge aus den alten Bundeslaendern machen
sich auf, wollen wissen, wie es in den neuen Bundeslaendern aussieht, wollen
mit den Menschen vertraut werden. Aber wir begegnen in diesem
Veraenderungsprozess auch jenen, die nach wie vor ihren Platz noch nicht
gefunden haben. Und es sind vor allem jene, die keine Arbeit haben.
Arbeitslosigkeit bedrueckt uns alle. Besonders aber die betroffenen Menschen
in den neuen und in den alten Bundeslaendern. Wir wissen um ihre Noete und
Leiden, um ihr beschaedigtes Selbstwertgefuehl, ihre subjektive Erfahrung,
gesellschaftlich an den Rand gedraengt zu sein und nicht gebraucht zu sein.
Unvergesslich ist mir das von Verzweiflung und Aggressivitaet gepraegte
Gespraech mit jenen Frauen, die im Rahmen einer AB-Massnahme in Bitterfeld
Maschinen demontierten, an denen sie jahrelang gearbeitet hatten. Waehrend
ich Muehe hatte, mir vorzustellen, dass in einem solchen Betrieb ueberhaupt
noch Menschen hatten arbeiten koennen, so ueberaltert und marode war der
gesamte Maschinenpark, klammerten sich diese Frauen in ihrer Verzweiflung an
ihre alten Arbeitsplaetzen. Ich drang nicht durch mit meinen Hinweisen auf
die neuen Arbeitsplaetze in Bitterfeld, auf die unterdurchschnittliche
Arbeitslosigkeit in dieser Stadt. Es gibt Situation in denen wir keine
schnellen befriedenden Antworten haben. Aber in denen wir die Bedraengnis der
Menschen hautnah miterleben, den Erwartungen auch nicht ausweichen koennen.
Solche Situationen machten mir deutlich, wie dringend notwendig und richtig
die Investitionen fuer neue Arbeitsplaetze und die Milliarden fuer Umschulung
und AB-Massnahmen waren und sind. Inzwischen wurden mehr als eine Million
neuer Arbeitsplaetze geschaffen, vor allem in mittelstaendischen Betrieben.
Dennoch, wir brauchen Foerderung und Hilfe auch in den naechsten Jahren.
Wir hoeren und lesen in diesem Zusammenhang von Heimatlosigkeit in der neuen
Heimat. Von Fremdheit im eigenen Haus. Das beschreibt zum einen den Eindruck,
nicht angenommen zu sein und zum anderen die Erfahrung, Vertrautes, auch mit
allen seinen negativen Elementen verloren zu haben, ohne mit dem Neuen
schon vertraut zu sein. Der Aufbau neuer Strukturen, auch demokratischer
Institutionen, bedeutet noch nicht, dass die Menschen sich schon selbst
angenommen haben und sich in ihnen geborgen fuehlen. Auessere Strukturen
lassen sich relativ rasch veraendern. Aber Mentalitaeten, typgepraegte
Einstellungen und Verhaltensweisen wandeln sich langsam. Dabei ist ein
entscheidender Bereich unsere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Auch hier werden wir mit unterschiedlichen Sichtweisen und Erwartungen
konfrontiert. Manche fuerchten, unser Umgang mit der Vergangenheit koennte
uns mehr teilen als einen. Helga Koenigsdorf, Schriftstellerin aus Jena, hat
es so formuliert: "Manchmal kommt es mir vor, als waeren wir ans Abschwoeren
so gewoehnt, dass wir gar keine positive Geschichte gebrauchen koennten. Wir
bewaeltigen, arbeiten auf, machen wieder gut. Wir stellen in die Ecke und
schleifen jeden Stein. Nur eines haben wir nicht gelernt: Wunden vernarben zu
lassen." Waere es besser gewesen, die Akten zu schliessen, um die Menschen
nicht zu ueberfordern? Wenn ich an meine ersten Begegnungen mit
Buergerrechtlern an der Runden Ecke in Leipzig oder in der Normannenstrasse
in Berlin, Hochburgen der Stasi, denke, dann weiss ich heute, dass damals in
mir die Ueberzeugung wuchs: Das Unrecht darf nicht verschwiegen, die
Stasi-Akten duerfen nicht geschlossen werden. Das begangene Unrecht muss
aufgearbeitet werden, sonst koennen auch die Wunden nicht vernarben. Anders
als nach 1945 war die Aufarbeitung von vielen getragen. Sie wollten es selbst
leisten und trauten es sich zu. Dieser Prozess ist auch schmerzlich, hat aber
vieles geklaert und nicht entzweit. Denn aus den Stasi-Unterlagen wurde
deutlich: die DDR war kein Volk von Spitzeln. Nur eine Minderheit von rund
zwei Prozent der Bevoelkerung hat mit dem MFS zusammengearbeitet. Der
Aktenzugang belegt zahlreiche Faelle von Zivilcourage und Widerstand der
Buerger und Buergerinnen. Aufarbeitung will Unrecht klaeren und offenlegen.
Gerechtigkeit schaffen, soweit dies im Nachhinein moeglich ist. Sie dient der
Versoehnung und nicht der Entzweiung oder der Ausgrenzung. Doch auch die
Menschen, die von der Staatsideologie verfuehrt wurden brauchen ihren Platz
in unserer Gesellschaft, wenn sie auf der Suche nach Neuorientierung sind. In
Gespraechen mit frueheren NVA-Angehoerigen ist mir einmal mehr bewusst
geworden, welch grosse Leistung es war, die NVA und die Bundeswehr in einer
Armee zu vereinen. Denken wir nur einen Moment darueber nach, was es
bedeutet, dass deutsche Soldaten, die auf deutsche Soldaten schiessen sollten
heute miteinander unser gemeinsames Vaterland schuetzen und den Frieden
sichern. Welches ist heute die Zielperspektive, die wir vor Augen haben?
Wohin sind wir Deutschen unterwegs, wenn wir von der inneren Einheit
sprechen. Mir ist in den zurueckliegenden fuenf Jahren immer mehr deutlich
geworden, dass der Weg zur inneren Einheit Deutschlands einher gehen muss mit
dem europaeischen Einigungsprozess. Die Vision Europa hat uns befaehigt und
ermutigt ueber Grenzen hinweg zu denken, Gemeinsames im Unterschiedlichen zu
suchen, Barrieren zu ueberwinden und Feindbilder aufzugeben. Aber wir wissen
auch, ohne Umbruch und Wandel in Mittel- und Osteuropa und ohne die
Zustimmung unserer Nachbarn in Ost und West waer die Deutsche Einheit nicht
moeglich gewesen. Wir haetten Entscheidendes nicht begriffen, wenn wir nicht
wuessten: Aus dem Zustandekommen der Deutschen Einheit erwaechst uns eine
Verpflichtung zur europaeischen Einigung. Das ist unser politischer Auftrag,
das Bedeutendste, was jetzt vor uns liegt. Unsere europaeischen Nachbarn
haben den Einigungsprozess mit besonderer Aufmerksamkeit begleitet. Die
Voelker Europas haben erlebt, dass die Deutschen nach der Einheit nicht
nationaler geworden, sonder europaeisch geblieben sind. Dass sie ein offenes
Land bleiben wollen, den Auslaendern und den Fliehenden gegenueber
menschenfreundlich eingestellt. Unsere Nachbarn erfahren, dass wir nicht auf
uns selbst fixiert sind. In dieser Situation ist es gut, dass wir uns auch -
Dank des Engagements des Bundeskanzlers - als Motor des europaeischen
Einigungsprozesses verstehen. Unsere Lehre aus dem europaeischen
Einigungsprozess ist: Trennendes ist ueberwindbar und im Unterschiedlichen
gibt es Gemeinsames, das verbindet. Ich moechte noch weitergehen. Europa hat
unsere Sichtweisen auf Europa und auf die Welt veraendert. Wir haben gelernt,
mit unseren Nachbarn zu leben - und sie mit uns. In diesem Europa der
gleichberechtigten Partner wollen wir Deutsche Bruecken bauen fuer eine
sicherere Zukunft eines groesseren Europas. Vergessen wir nicht: Nicht fern
von uns, mitten in Europa, ist wieder Krieg. Das macht uns deutlich, wie sehr
wir ein politisch vereintes und handlungsfaehiges Europa brauchen. Nach fuenf
Jahren bleibt es bei der Einsicht: Wir haben die Zeit genutzt. Dabei haben
wir miteinander auch gelernt, dass wir fuer den inneren Einigungsprozess,
fuer die Arbeit, die vor uns liegt, mehr Zeit brauchen als zunaechst
angenommen. Wir haben vielleicht auch im Ueberschwang des Aufbruchs manche
Schwierigkeit unterschaetzt. Wir wollten ein hohes Mass an Einheitlichkeit
und mustergueltigen Regelungen. Wir haben die Einsicht gewonnen, dass manche
Regelung nicht auf die Verhaeltnisse passte und dass wir fuer die neue Zeit
neues Denken, flexiblereres, unbuerokratischeres und oftmal schnelleres
Handeln brauchen. Wir im Westen meinten zunaechst, es werde hier alles beim
alten bleiben. Inzwischen wissen wir laengst, ganz Deutschland und ganz
Europa befindet sich im einschneidensten Veraenderungsprozess dieses
Jahrhunderts. Wir alle koennen nur Zukunft gewinnen, wenn wir uns veraendern.
Dabei sind die Menschen das Wichtigste. Dieser Veraenderungsprozess gelingt
nur auf der Grundlage gleichberechtigten Umgangs miteinader, auf der
Grundlage des Verstaendnisses fuer unterschiedliche Lebenslaeufe und
Problemloesungswege und in der Ueberzeugung, dass wir in Europa einander
brauchen, so wie in der Welt einander brauchen. Angesichts dessen was
erreicht worden ist haben wir Grund zur Dankbarkeit und sollten diesen Tag in
froher Zuversicht feiern. |
Bundespraesident Herzog zu Zukunftsproblemen Deutschlands |
Die Zukunftsprobleme Deutschlands koennen nach Ansicht von Bundespraesident
Roman Herzog nur mit einer Aufbruchsstimmung wie bei der Wiedervereinigung vor
fuenf Jahren bewaeltigt werden. In einigen Wirtschaftszweigen kaeme die
Industrie immer besser voran, sagte Herzog im Zweiten Deutschen Fernsehen.
Im Bereich der Computer- und Gen-Technik laufe man jedoch Gefahr, den
Anschluss zu verlieren. Die dazu notwendige positive Grundeinstellung sei im
Osten staerker verbreitet als im Westen des Landes, betonte der
Bundespraesident. Herzog warnte ferner vor einem kraftmeierischen Auftreten
im Ausland. So sollte etwa bei der Diskussion ueber die Beitrittsbedingungen
zur europaeischen Waehrungsunion von deutscher Seite Zurueckhaltung geuebt
werden. |
Aussenminister Kinkel wuerdigt Ungarns Rolle bei der Wiedervereinigung |
Am Zusammenbruch des Regimes in der DDR war Ungarn massgeblich beteiligt. Die
damalige reformkommunistische Regierung hatte im September 1989 die Grenze
geoeffnet und tausende DDR-Fluechtlinge in den Westen ausreisen lassen.
Diesen Beitrag Ungarns zur deutschen Einigung wuerdigte Bundesaussenminister
Kinkel heute bei einem Besuch in Budapest. Auf dem Gelaende der deutschen
Botschaft in Budapest gab Aussenminister Kinkel heute Nachmittag einen
Empfang. Dorthin waren im Sommer vor sechs Jahren viele DDR-Buerger
gefluechtet. Der jetzt amtierende Ministerpraesident Ungarns, Horn, damals
Aussenminister ermoeglichte im September 1989 ihre Massenflucht nach
Oesterreich und Deutschland. Aussenminister Kinkel kam mit Regierungschef
Horn, sowie einigen Ministern der ungarischen Regierung zu Gespraechen
zusammen. Zu den wichtigsten Themen duerfte der Wunsch Ungarns gezaehlt
haben, moeglichst schnell sowohl in die NATO als auch in die EU aufgenommen
zu werden. Vor etwa zwei Wochen hatte die ungarische Regierung von der EU
gefordert, klarzustellen, wann die Beitrittsverhandlungen beginnen koennen.
Dass sich Deutschland als Anwalt Ungarns sehe und das Land auf dem Weg in die
EU und die NATO begleiten wolle, betonte Kinkel bei seinen Gespraechen in
Budapest erneut. |
Krisentreffen der SPD |
Duesseldorf. SPD-Chef Scharping hat sich am Rande der Feiern zur Einheit mit
den sozialdemokratischen Ministerpraesidenten zu einem Krisengipfel
getroffen. Dabei sollte es sowohl um den Diaetenstreit als auch um die Lage
der Partei nach dem Ruecktritt von Bundesgeschaeftsfuehrer Verheugen gehen.
Naehres wurde nicht bekannt. |
Vogt fuer baldige Erweiterung der NATO |
Der Praesident der nordatlantischen Versammlung, Vogt, plaediert dafuer, die
NATO bald um die Staaten Mittel- und Osteuropas zu erweitern. Vor
Journalisten in Bruessel sagte der SPD-Politiker heute, dies sei schon
deshalb noetig, um den Demokratisierungsprozess in diesen Laendern zu
foerdern. Auch wuerden diese Staaten in eine Wertestruktur eingebunden und so
ein Konkurrieren der Sicherheitssysteme verhindert. Vogt forderte zugleich,
Russland in europaeischen Sicherheitsfragen nicht nur zu informieren sondern
auch zu konsultieren. |
Daimler-Tochter eroeffnet Werk in Budapest |
Budapest. Die Daimler-Tochter Temik aus Heilbronn hat heute in der ungarischen
Hauptstadt eine Produktionsstaette eroeffnet, in der 300 Mitarbeiter
beschaeftigt werden. In dem Werk wird Mikroelektronik fuer die Autoindustrie
hergestellt. Der Vorsitzende der Temik-Geschaeftsfuehrung, Maier, sagte, mit
dem neuen Zulieferwerk wuerden berechtigte Erwartungen in die
wiederentstehende Autoindustrie im oestlichen Teil Europas gesetzt. |
Klose fordert mehr Hilfe fuer Erdbebenopfer |
Dinar (sp?). Das Erdbeben in der westlichen Tuerkei hat nach offiziellen
Angaben bisher 75 Menschenleben gefordert. Die Zahl der Verletzten wurde mit
rund 250 angegeben. Bundestagsvizepraesident Klose forderte heute mehr Hilfe
fuer die Erdbebenopfer. Nach der Besichtigung von Dinar sagte Klose, jetzt
wuerden vor allem beheizbare Winterzelte und Decken gebraucht. |
Ergebnisse vom DFB-Pokalwettbewerb |
FC Homburg - 1860 Muenchen 1:2 Nuernberg - Werder Bremen 3:2 |
Gebrechlichkeitspfleger fuer die SPD (Sueddeutsche Zeitung) |
(von Heribert Prantl)
Rudolf Scharping hat keine Chance mehr, aber er wird sie nutzen. Er wird
sich einen neuen Bundesgeschaeftsfuehrer suchen, einen, der ihm die
Loyalitaet des groessten Landesverbandes der SPD sichert. Mit Hilfe dieses
Mannes wird Scharping die naechsten Wochen und den naechsten Parteitag
politisch ueberleben. Dieser Mann heisst Franz Muentefering, ist
Sozialminister in Nordrhein-Westfalen und Chef des mitgliederstaerksten
SPD-Bezirks. Muentefering ist ein sehr integrer Mann - aber kein politischer
Manager. Auch er wird die SPD nicht kurieren. Aber er wird die Kruecke sein,
mit der sich Rudolf Scharping durch die naechsten Monate schleppt. Wenn
Scharping diese Kruecke nicht bekommt, dann kann ihn auch seine robuste
politische Natur nicht mehr retten.
Wo andere Knochen und Sehnen haben, hat Scharping Eisen - so sagt es ein Sozialdemokrat, der es wissen muss. Dies mag erklaeren, warum der SPD-Chef so lange aushaelt. Was Scharping widerfaehrt, das ist noch kaum einem Spitzenpolitiker der Nachkriegszeit widerfahren: Dass er in der Oeffentlichkeit beinahe als Lachnummer dasteht. Und dies passiert einem Mann, der vor zwei Jahren noch mit Spitzenpraedikaten bedacht wurde: Im "Spiegel" war er "der absolute Profi" und in diesem Blatt "der rechte Mann zur rechten Zeit". Seitdem sind der Vorsitzende und seine Partei in tiefste Tiefen gestuerzt. Vor knapp zwei Jahren noch war die SPD in den Umfragen staerkste Partei, heute ist sie fast auf den Stand von 1949 zurueckgeworfen. Vor zwei Jahren litt die Union an Auszehrung, heute galoppiert die Schwindsucht bei der SPD. So mancher Genosse mag sich vielleicht damit troesten, dass, spaetestens nach dem Abgang von Kohl, auch die Union dieses Schicksal wieder ereilen wird. Indes: Was wird bis dahin mit den Sozialdemokraten passiert sein ? Es geht um den Status der SPD als Volkspartei. Die sich verschaerfende Krise der SPD heisst auf englisch "sharping crisis". Das ist schoen doppeldeutig. Wer freilich das sozialdemokratische Desaster auf den Namen Scharping verkuerzen will, liegt falsch. Richtig ist eher, dass, solange Scharping noch da ist, das eigentliche Problem der SPD verdeckt wird: Diese Partei hat derzeit keinerlei Fuehrungsreserven; Brandts Enkel haben keine Enkel. Es gibt derzeit nur den unterschaetzten Scharping, den ueberschaetzten Schroeder und den auf eine neue Chance wartenden Lafontaine. Solange die drei sich gegenseitig blockieren treibt die SPD manoevrierunfaehig in den Abgrund. Der Aufbau neuer Spitzenleute aber wird sechs bis acht Jahre dauern. Bis dahin kann die Partei zugrunde gehen. Die SPD hat ihre Oppositionszeit nicht genutzt. Sie hat sich benommen, als waere sie nicht Opposition, sondern Regierung im Wartestand. Und je laenger sie warten musste, umso mehr hat sie die Bewegungen und Verrenkungen der Union nachvollzogen. Erst wurde die SPD ein Schatten der Regierung - und dann ein Schatten ihrer selbst. Sie hat in den letzten Jahren so geraeuschlos Opposition betrieben, dass die Papiere, die sie produzierte nicht einmal mehr raschelten. Die Woerter, die den Zustand der SPD beschreiben aehneln auf fatale Weise denjenigen, mit denen vor einem Jahr der Zustand der Freien Demokraten beschrieben wurde. So weit also ist es mit der aeltesten Partei Deutschlands, mit der groessten Partei Europas gekommen. Risiko ist die Bugwelle des Erfolgs - Scharping aber hat nie etwas riskieren wollen. Guenter Verheugen, sein Ex-Bundesgeschaeftsfuehrer, musste ihm stets zum Jagen tragen. Wer kann es dem Mann verdenken, dass er diese Anstrengung leid war? Fuer Rot-Gruen zum Beispiel hatte sich Scharping erst dann entscheiden koennen, als es diese Option schon gar nicht mehr gab - als naemlich klar wurde, dass die Sozialdemokraten noch schneller verlieren, als die Gruenen gewinnen koennen. Die gruene Partei wurde zum Auffangbecken fuer einen Teil der frustrierten Genossen. So also ist aus der SPD eine Partei geworden, bei deren Anblick selbst Helmut Kohl vom Mitleid uebermannt wird. In dieser schicksalhaften Lage fingen die Sozialdemokraten auch noch an, ihre solidarischen Traditionen zu verraten - und sind dabei, die eigene Partei zu zerstoeren. Sie braucht immer weniger einen Vorsitzenden, denn einen tuechtigen Gebrechlichkeitspfleger. Worauf soll diese Partei jetzt hoffen? Darauf, dass ihr "trio infernal" zur Besinnung kommt? Solche Hoffnung ist Wohl die Verwechslung des Wunsches einer Begebenheit mit ihrer Wahrscheinlichkeit. Und was soll diese Partei tun ? Sie kann neidvoll auf die Gruenen schauen, wo ein Joschka Fischer mit den Medien Ping-Pong spielt. Das gelingt dem Fraktionschef der kleinen Oppositionspartei so gut, dass sich Fischer auf eine riskante Verlockung einlaesst - auf die Verlockung aus den Gruenen eine grosse Volkspartei zu machen - und das moeglichst schnell. Es ist dies ein Griff nach den Sternen, der dann nicht aussichtslos waere, wenn der Stern der Sozialdemokraten noch tiefer stuerzte.
Fischers Griff nach der Macht freilich wird schon jetzt vom Murren der
gruenen Basis begleitet, die fuerchtet, dass dabei die gruenen Grundsaetze
verludern koennten. Der Strategiekongress am Wochenende war ein kleines
Warnzeichen. Die Gefahr liegt nicht ganz fern, dass Fischer einen
sozialdemokratischen Fehler wiederholt: Wer nur nach oben schaut, der bricht
unten ein. |
Quellen |
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