Die im Dunkeln sieht man nicht. Diese Erfahrung machen nicht nur Arbeitslose
und Sozialhilfeempfaenger, sondern auch schlecht bezahlte Arbeitnehmer wie
die Beschaeftigten im Einzelhandel, deren Streik weder die Medien noch die
Konsumenten besonders erregt. Selbst wenn ihre Gewerkschaft staerker waere,
haetten sie keine Macht. Man brauchr sie zwar aber sie sind ersetzbar. Ihre
Lage wird nicht nur von den Arbeitgebern ausgenutzt, sondern auch von den
Kunden, die ihr Geld dorthin tragen, wo das Angebot am billigsten ist.
Dienstleistung wird von denen, die sie in Anspruch nehmen, sehr direkt als
"dienen" verstanden, und dienen wird traditionell duerftig bezahlt.
Insbesondere wenn die Geschaefte, wie im Augenblick, zu wuenschen uebrig
lassen. Der Koenig Kunde fuehlt sich durch steigende Steuern und Abgaben
sowie durch sinkende Lohnzuwaechse selbst ausgebeutet und dreht die Mark
zweimal um, bevor er sie ausgibt.
Es geht hier aber nicht um die sechs Prozent, fuer die im Einzelhandel
gekaempft wird. Dies ist nur ein Symptom fuer den Zustand der Gesellschaft.
Es gibt andere wie die Zunahme der Sozialhilfeempfaenger. Nach dem juengsten
Bericht des Statistischen Bundesamtes konnten im Jahre 1993 2,5 Millionen
Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr allein bestreiten, darunter viele
Arbeitslose. Imzwischen wird die Zahl noch hoeher sein. Die staatliche
Sozialhilfe ist an der Grenze ihrer Leistungsfaehigkeit. Der zustaendige
Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer hat deshalb sofort wieder nach einer
"Reform der Sozialhilfe" gerufen, deren oberstes Ziel es sein muesse, den
Bezug von Sozialhilfe zu vermeiden.
Damit streut Seehofer sich Sand in die Augen. Wir leben offensichtlich in
einer Transfergesellschaft, in der immer mehr Menschen auf Hilfe angewiesen
sind - entweder weil sie keine Arbeit haben oder weil ihr Verdienst fuer den
Lebensunterhalt nicht ausreicht. In den Industrienationen hat ein technischer
und gesellschaftlicher Quantensprung stattgefunden. Wachstum ist gleich
hoehere Produktivitaet. Dafuer werden aber heute nicht mehr, sondern - im
weltweiten Wettbewerb - weniger oder billigere Arbeitskraefte gebraucht. Dem
Druck auf die Loehne, der ueberall deutlich spuerbar ist, sind aber
politische und soziale Grenzen gesetzt. Noch immer ist es einfacher, Leute zu
entlassen, zumal da die Chip-Technik sie ohnehin ueberfluessig macht. Der
Konjunkturaufschwung der letzten Monate hat kaum neue Arbeitsplaetze
geschaffen. Wir werden mit einem hohen Prozentsatz von Arbeitslosen leben
muessen. Auch die oekologische Wirtschaft wird daran nicht aendern, wenn sie
oekonomisch sein will, vor allem wenn sie nur herkoemmliche Industrien
ersetzt. Arbeit gibt es zwar genug, aber billige Arbeit wie in Teilen des
Dienstleistungsgewerbes. Wir werden deshalb mit einer wachsenden Zahl von
schlecht bezahlten Arbeitern leben muessen, die in vielen Faellen auf
zusaetzliche Unterstuetzung angewiesen sind.
ANSPRUECHE AN DEN STAAT - Der amerikanische Arbeitsminister Rober Reich
warnte kuerzlich: "Dieser Trend bedroht die Stabilitaet und Prosperitaet
unserer Gesellschaften. Wir halten uns selbst zum Narren, wenn wir glauben,
dass wir das soziale Sicherheitsnetz zerreissen, den unbeschraenkten Fluss
von Kapital und Waren erlauben und gleichzeitig den Verlierer in unserer
Wirtschaft versichern koenne, dass wegen des daraus resultierenden Wachstums
ihre Verluste nur voruebergehend sein werden."
Diese Worte sind an die konservativ-puritanischen "Reformer" in den USA
gerichtet, die das Sozialhilfeprogramm drastisch einschraenken moechten und
die Ansprueche an den Staat auf den Verfall der buergerlichen Moral vor allem
bei unverheirateten jungen Muetter zurueckfuehren. Einiges davon ist auch
ueber den Atlantik geschwappt - weniger nach Deutschland als nach England, wo
Margarete Thatcher noch als Erzengel viktorianischer Tugenden gilt. Ueber die
"neuen Viktorianer", die lieber Plicht und Moral predigen als Brot geben,
spottet dieser Tage sogar die sonst so kapitaltreue "Financial Times". Sie
druckte ein Stueck aus einem viktorianischen Roman von Charlotte Bronte'
nach, in dem sich Waisenhausrektor Brocklehurst darueber beschwert, dass
jungen Maedchen entgegen seinen Anweisungen zweimal in der Woche Brot und
Kaese zum Mittagessen gegeben wird und dann sagt: "Wenn Sie Brot und Kaese
statt Hafferbrei in die Muender dieser Kinder stopfen, moegen sie in der Tat
ihre suendhaften Koerper fuettern, Sie vergessen aber dabei, wie sehr ihre
unsterbliche Seelen darben."
In der sozial aufgeklaerten Bundesrepublik wuerden sich die konservativen
"Reformer" solche Vergleiche verbitten. Sie reden nur davon, wie man den
"Missbrauch" der Sozialhilfe verhindern und durch Einfuehrung eines
"Abstandsgebotes" zwischen Sozialhilfe und Loehnen wieder einen staerkeren
Arbeitsanreiz schaffen und arbeitsunwillige Hilfeempfaenger durch "zumutbare"
Arbeit fuer die Allgemeinheit in Plicht nehmen koenne.
SEEHOFERS REFORMPLAENE - In der Theorie ist das nicht falsch. Es gibt
Missbrauch, wenngleich weniger als angenommen. Es gibt Sozialhilfe, die nicht
unter, sonder ueber niedrigen Loenen liegt. Und warum soll es unzumutbar sein,
Sozialhilfeempfaenger zum Saeubern des Rasens im Stadtpark zu verpflichten?
In der Praxis sieht es jedoch anders aus. Missbrauch und Arbeitsunwilligkeit
sind schwer zu definieren. Da kann vor Willkuer nur gewarnt werden. Sinnvolle
und angemessen bezahlte Arbeit wird in der Regel immer noch akzeptiert. Die
fuer Sozialhlifeemfaenger vorgesehenen Beschaeftigungen sind dies nicht; sie
sind obendrein unprodukiv und verhindern die Schaffung von regulaeren
Arbeitsplaetzen. Und was das "Abstandsgebot" angeht, so haengt dies von der
Definition des Existenzminimums und damit auch eines Mindestlohnes ab. Es
gibt junge Ehepaare mit Kindern, bei denen, wenn nur einer arbeitet, das
Sozialamt die Miete zahlen muss, weil diese sonst nicht mehr erschwinglich
ist. Die Einfuehrung eines Abstandsgebots wuerde die Forderung nach Erhoehung
des Existenzminimums und der Niedrigloehne provozieren.
Seehofers Reformplaene sind Schaufensterware fuer buergerliche Waehler. Die
Probleme der Transfergesellschaft loesen sie nicht. Es wird Zeit, ueber
umfassendere Ansaetze nachzudenken. Einer davon ist das umstrittene
Buergergeld, die staatliche Zusicherung eines Existenzminimums. Liegen auch
Lohnempfaenger darunter, wird ihnen anstelle von Sozialhilfe die Differenz
als Negativsteuer ausbezahlt, womit auch Arbeitslosen-Unterstuetzung gespart
werden koennte. Alle Argumente gegen das Buergergeld koennen bis auf eines
entkraeftet werden: die Kosten. Die Einfuehrung des Buergergelds haengt von
einer radikalen Steuerreform ab - die Abschaffung aller
Steuerverguenstigungen und die konsequente Verfolgung der Steuerhinterziehung.
Bisher fehlt den grossen Parteien dazu der Mut. Ebenso wie zu der Einsicht,
dass nicht mehr alle Menschen zur aktiven Mitarbeit am Wertschoepfungsprozess
hochindustrialisierter Gesellschaften gebraucht werden. Die Zeiten der
Vollbeschaeftigung sind endgueltig vorbei. Dennoch muss auch denen, die keine
Arbeit haben oder deren Leistung unzureichend entlohnt wird, eine
menschenwuerdige Teilnahme am allgemeinen Wohlstand ermoeglicht werden.
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